„Open Science ist im Grunde gute wissenschaftliche Praxis in einem digital vernetzten Zeitalter“

Gute Forschung sollte zugänglich, nachvollziehbar und transparent sein

INTERVIEW mit dem Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds Science 2.0 Dr. Guido Scherp vom Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Er findet, dass man auf Open Science unterschiedliche Sichtweisen haben kann, zum Beispiel eine pragmatische aus Sicht des Forschenden, die mehr Effizienz in die Wissenschaft bringt, weil sie Ergebnisse, Daten und Methoden leichter auffindbar und nachnutzbar macht – oder eine strukturelle mit Blick auf das  Wissenschaftssystem, in der er es darum geht, Schieflagen wie ein fehlgeleitetes Publikationssystem oder das Reproduzierbarkeitsproblem zu beheben. Wir sprachen mit ihm über den Unterschied zwischen Open Science und Science 2.0, die Notwendigkeit von offener Wissenschaft, und wie man Forscherinnen und Forscher dazu bringt, die damit einhergehenden Arbeitsprozesse zu beherzigen.

 

Dr. Guido Scherp, Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft und Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds Science 2.0

Herr Scherp, Science 2.0 – Open Science? Wo liegt der Unterschied?

Wenn ich mit anderen gemeinsam über Plattformen wie Google Docs eine Publikation erarbeite und in einer Zeitschrift veröffentliche, die nicht Open Access zugänglich ist, betreibe ich Science 2.0, aber nicht Open Science. Wenn ich einen Beitrag gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern in einem Worddokument schreibe und ihn nachher in einem Open Access-Journal veröffentliche, dann mache ich Open Science, aber nicht Science 2.0.

„Science 2.0 bietet die technologische Grundlage, um Open Science zu betreiben – ist also ein Teil von Open Science.“

Das Entscheidende bei Science 2.0 ist die Arbeit mit digitalen Werkzeugen – zum Beispiel des Social Webs: Man betreibt einen eigenen Blog oder benutzt Twitter und andere Online-Tools und Plattformen, um mit anderen Forschen zu kommunizieren und sich auszutauschen; man bedient sich also spezieller Werkzeuge, um partizipativ und kollaborativ zu forschen. Bei Open Science hingegen geht es darum, Forschung in Bezug auf ihre Produkte und Prozesse zu öffnen. Science-2.0-Tools zeigen, wie das gelingen kann. Beides ergänzt sich also wunderbar!

Wie offen soll oder kann denn Wissenschaft sein?

Offene Wissenschaft betreibt man nicht nur für die Wissenschaftsgemeinschaft selbst, es sind auch andere Zielgruppen wie Politik und Wirtschaft, aber auch die interessierte Öffentlichkeit wichtig. Ihnen so verständlich wie möglich zu erklären, warum man etwas erforscht, wie man es erforscht, zu welchen Ergebnissen man kommt und welche Bedeutung sie haben können, ist Teil des wissenschaftlichen Transfers.

„Transfer ist ein wichtiger Aspekt von Open Science!“

Zum Beispiel kann man Bürger stärker in Forschungsprozesse einbinden, um Glaubwürdigkeit und Akzeptanz für Wissenschaft zu schaffen; Stichworte sind hier Citizen Science oder breiter gefasst Community Science, bei der gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren aktiv Forschung betrieben wird oder auch relevante Forschungsthemen identifiziert werden. Für die Politik liefert eine offene und transparente wissenschaftliche Arbeit die Grundlagen für die Beratung zu wichtigen gesellschaftspolitischen Themen. Und eine Wissenschaftlerin, die Open Science betreibt, stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit ihre Forschung für eine wirtschaftliche Verwertung anschlussfähig ist. So ist es erklärtes Ziel der European Open Science Cloud, auch die Industrie – im Sinne von „Open Innovation“ – dort einzubinden. Das ganze Transferthema ist wichtig, weil man aktiv daran arbeiten muss, dass die Informationen auch ihre Adressaten erreichen. Ablegen allein reicht nicht!

Wo beginnt die Offenheit bei Open Science? Bei der freien Zugänglichkeit zu Fachliteratur und Forschungsdaten, oder schon früher?

Im Grunde ist Open Science nichts anderes als gute wissenschaftliche Praxis in einem digital vernetzten Zeitalter; es gelten die Grundprinzipien des methodischen, systematischen und überprüfbaren Vorgehens, die in allen Disziplinen und international und interkulturell gleich sind. Allen voran steht die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und anderen. Daraus folgt auch, dass nicht nur positive, sondern auch negative Ergebnisse veröffentlicht werden. In der Biomedizin kann es sehr sinnvoll sein, Untersuchungen zu Wirkstoffen zu publizieren, auch wenn die Wirkstoffe keine Wirkungen zeigen.

„Generell gilt: Je mehr über einen Forschungsprozess publiziert wird, desto besser können die Ergebnisse nachvollzogen und frühzeitiger Qualitätssicherung betrieben werden.“

Im „Open Science Journal“ Research Ideas and Outcomes (RIO) kann man beispielsweise auch Projektanträge, Methoden und Software veröffentlichen – nicht nur Publikationen oder Forschungsdaten. Und Bestrebungen, Open-Science-Praktiken als Standard zu etablieren, gehen oft von so genannten Reproduzierbarkeitskrisen aus. Zum Beispiel konnten in der Psychologie bei einer Vielzahl von Studien die Ergebnisse nicht repliziert werden, was zur Einführung von Open-Science-Standards durch die Community geführt hat. Open-Science-Mechanismen können dabei helfen, Daten auf vernünftige Art und Weise zu publizieren, indem Data Repositories eingeführt werden und Forschungsdatenmanagement verpflichtend wird. Außerdem könnte für Publikationen in Fachjournals auch die Veröffentlichung von Daten und Skripten erzwungen werden, mit denen die Studie durchgeführt wurde.

Ist man in den Naturwissenschaften weiter als in den Sozialwissenschaften?

Der Durchdringungsgrad von Open Access und Open Data unterscheidet sich je nach Disziplin. Wenn beispielsweise Veröffentlichungen in Open-Access-Journalen kaum üblich oder nicht besonders anerkannt sind, wird auch nur in Print-Zeitschriften publiziert. Aber es gibt Disziplinen, die schon frühzeitig den Mehrwert von Open-Access-Publikationen erkannt haben. Ein klassisches Beispiel dafür ist arXiv.org für so genannte Preprints (Anm. d. Red.: Vorabdrucke von Artikeln oder Buchbeiträgen, die zur Veröffentlichung vorgesehen sind, um Fehler zu vermeiden) aus den Bereichen Physik, Mathematik, Informatik, Statistik, Finanzmathematik und Biologie. Ein wenig anders ist es beim Thema Open Data bzw. Forschungsdatenmanagement: Wissenschaftliche Einrichtungen wie das CERN im Bereich der Hochenergiephysik, also Naturwissenschaften, mussten aufgrund ihrer unglaublich großen Datenmengen schon von Beginn an ein vernünftiges Forschungsdatenmanagement haben.

„Disziplinen mit großen Datenaufkommen haben in der Regel ein professionelles Datenmanagement etabliert und müssen keine großen Anstrengungen mehr unternehmen, ihre Forschungsdaten nach offenen Prinzipien aufzubereiten.“

Auch die Sozialwissenschaften habe eine lange Tradition beim Betrieb von Datenarchiven. Allgemein sind Disziplinen, die eher mit kleinen Datensätzen arbeiten, noch nicht ganz so weit; die Notwendigkeit Forschungsdatenmanagement zu betreiben war einfach noch nicht so groß. Diese Diskrepanz hat also auch etwas mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Kulturen zu tun. Aber auch in diesen Disziplinen wird das Thema Forschungsdatenmanagement und Open Data derzeit stark vorangetrieben. Mittlerweile gibt es zahlreiche Repositories, wo Forschungsdaten abgelegt werden können und über einen so genannten „Persistent Identifier“ auch zitierbar sind. Nächster Schritt wäre die breite Anerkennung von Forschungsdaten als eigenständige Publikation im wissenschaftlichen Reputationssystem, wo auch die Nachnutzung bereits publizierter Daten erfasst wird.

Open Science in den Bildungswissenschaften

Open Access: Das Repositorium pedocs Open Access Erziehungswissenschaften bündelt elektronische Volltexte der Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft und stellt sie kostenfrei zur Verfügung. Auch eine Liste von Open-Access-Zeitschriften der Erziehungswissenschaften ist hier einzusehen.
Die Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) veröffentlicht Artikel als Online-First.

Open Data: Das Verbund Forschungsdaten Bildung ist die Anlaufstelle für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung zur Archivierung und Bereitstellung von Forschungsdaten und Erhebungsinstrumenten der qualitativen und quantitativen Forschung.

Open Peer Review: Das Forum Qualitative Sozialforschung ist eine seit 2000 bestehende Open-Access-Zeitschrift für qualitative Sozialforschung mit den Rubriken FQS-Reviews, FQS-Debatten, FQS-Tagungen und FQS-Interviews. Alle Beiträge werden begutachtet und muttersprachlich lektoriert.

Preregistration: Das Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) unterstützt Wissenschaftlerinnen dabei, ihre Studien zu prä-registrieren, um nachweisen zu können, dass sie so durchgeführt und analysiert wurden, wie vorab geplant.

Wie sieht es mit der Konkurrenz unter Wissenschaftlern aus? Stehen sie nicht unter Druck, Forschungsergebnisse als erstes publizieren zu müssen?

Die Sorge, dass Ideen geklaut werden, hört man oft in der Diskussion um Open Science. Aber um das zu „verhindern“, gibt es relativ einfache Instrumente und Methoden. Wenn ich vor dem eigentlichen Beginn der Studie mein Konzept schon vorher über einen pre-registered report bei einem Journal einreiche und er zur Veröffentlichung angenommen wird, weiß jeder, dass die Studienmethodik von mir ist. Mein Einsatz ist damit nachweisbar und auch zitierbar. Ein anderes Instrument sind Embargofristen; sie gewährleisten, dass ich die von mir selbst erhobenen Daten eine gewisse Zeitlang exklusiv nutzen kann. Wenn ich einen Projektantrag mit Forschungsdatenmanagement-Plan einreiche, lege ich fest, dass die Daten nach beispielsweise sechs bis zwölf Monaten publiziert sein müssen. Während dieses Zeitraums erhebe und analysiere ich meine Daten entlang meiner Forschungsfragen und -methode. Erst danach veröffentliche ich die Datensätze zur Nachnutzung. Wenn ich natürlich gleich die Rohdaten veröffentliche, laufe ich Gefahr, dass jemand anderes die als erstes analysiert.

Open Science bedeutet demnach auch Dokumentation und Mehrarbeit. Wie kriegt man Wissenschaftler dazu, offene Wissenschaft zu betreiben?

Das ist eine Riesenbaustelle! Im Grunde müssen neue Bewertungskriterien für Forschungsleistungen festgelegt werden, denn Wissenschaftlerinnen investieren vorrangig dann Zeit in etwas, wenn es ihrer Reputation zu Gute kommt. Damit sie also die für Open Science notwendigen Arbeitsschritte umsetzen, muss sichergestellt sein, dass es ihnen was bringt. Konkret: Open-Access-Publikationen, die Veröffentlichung von pre-registered reports und Forschungsdaten oder auch die Beteiligung an (Open) Review-Prozessen – all das muss als wissenschaftliche Leistungen anerkannt werden. Wenn ich mich heutzutage auf eine Professur bewerbe, sind noch immer der Publikationsoutput mit Journal Impact Factor, die Drittmittel, und wie gut ich Lehre mache, die wissenschaftliche Währung. Es müssen also entsprechende Anreizsysteme geschaffen werden, in denen Open-Science-Praktiken gemessen und anerkannt werden.

„Wir brauchen ein neues Bewertungssystem für wissenschaftliche Leistungen.“

Um das bestehende Bewertungssystem zu ergänzen gibt es zum Beispiel Ansätze wie Altmetrics; hier wird versucht Indikatoren zu entwickeln, die die Resonanz im Web, unter anderem  im Social Web, messen. Also: Was bedeutet es eigentlich für meinen Impact, wenn meine Publikation auf Twitter oder Facebook erwähnt wird, oder ich Leser auf Mendeley habe? Wie können und müssen vernünftige Indikatoren in der Zukunft eigentlich aussehen? Dieses Thema ist äußerst komplex und jede wissenschaftliche Community muss für sich festlegen, wie sie das umsetzen möchte. Aber es gibt auch Initiativen auf wissenschaftspolitischer Ebene. Die EU hat beispielsweise den Open Science Monitor gestartet, um die Durchdringung von Open Science auf europäischer Ebene zu messen und Trends zu erkennen.

Sind Sie optimistisch, dass sich die Offene Wissenschaft durchsetzt?

Ja, denn nach und nach lassen sich die Mehrwerte von Open Science jetzt auch wissenschaftlich belegen: Studien zeigen, dass man häufiger zitiert wird, wenn man in einem Journal auch seine Forschungsdaten publiziert hat. Dasselbe gilt für Veröffentlichungen in Open-Access-Journalen; die sind einfach leichter zugänglich und werden deshalb häufiger gelesen. Auch wissenschaftspolitisch ist Open Science erwünscht. Nach über 20 Jahren Bemühungen hat die Open-Access-Bewegung breite Anerkennung erreicht. Mit Open Data ist jetzt der nächste große Baustein dran. Auf europäischer Ebene sieht man das an der European Science Cloud, in Deutschland an der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur. Auch Initiativen wie GO FAIR, die sich – wenn Offenheit beispielsweise aus Datenschutzgründen nicht möglich ist – für einen „fairen“ Zugang zu Forschungsdaten einsetzen, zeigen, dass zurzeit sehr viel passiert.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Scherp!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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2 Kommentare

  1. Lisa Weber

    Ich finde, dass Open Science viele Dinge vereinfachen und optimieren würde. Durch solch eine offene Wissenschaft wäre es auch einfacher für „nicht Wissenschaftler“, sich Ergebnisse anzuschauen und Schlüsse zu ziehen. Darüber hinaus käme es aber auch zu einer besseren Zusammenarbeit in der Forschung selber.

    Die Digitalisierung ist in diesem Falle aber auch die perfekte Lösung. Bei uns in der Firma nutzen wir beispielsweise schon lange einen Cloud-Anbieter in Deutschland, über welchen wir den Großteil unserer Daten verwalten und ansteuern. Man hat heutzutage mit solchen Lösungen keine großen Investitionskosten und bekomme dennoch große Speicher bzw. Rechenkapazitäten. In diesem Falle wäre die Datenbank eben für alle erreichbar, welche sich für das jeweilige Thema interessieren, also „Open Access“. Forschungsdaten sind für viele Menschen sehr wertvoll und ein solches System würde das Leben von vielen sehr erleichtern.

  2. Pingback: Open Practice in Science and Education | GenR

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