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Forschungsdatenzentren stellen sich vor (4): Das Archiv für pädagogische Kasuistik an der Goethe-Universität Frankfurt

Wer sich im Studium, im Rahmen seiner Forschungen oder in der Lehre für pädagogisches Handeln, unterrichtliche Interaktionen und pädagogische Praxis interessiert und protokollierte Ausschnitte dieser Wirklichkeit analysieren und rekonstruieren will, ist beim Archiv für pädagogische Kasuistik (ApaeK) an der Goethe-Universität Frankfurt genau richtig. ApaeK, geleitet von Prof. Dr. Mirja Silkenbeumer ist eine in Umfang und Qualität einzigartige Sammlung von über 3000 Datensätzen bestehend aus Beobachtungsprotokollen, Unterrichtstranskripten und anderen Dokumenten. Besonders ist die Sammlung, die 2001 begonnen wurde, unter anderem auch deshalb, weil sie über Transkriptionen kompletter Unterrichtstunden verfügt.

INTERVIEW mit Dr. Helge Kminek, dem Administrator der Archivdatenbank.

Prof. Dr. Mirja Silkenbeumer und Dr. Helge Kminek, Leiterin und Administrator von APAEK

Herr Kminek, was bedeutet „pädagogische Kasuistik“?

Kasuistik meint die Betrachtung von Einzelfällen. Der Begriff ist vor allem in den Rechtswissenschaften und der Medizin geläufig. Am Beispiel der Medizin kann man das gut beschreiben: Wenn Sie zur Sprechstunde eines Arztes gehen, wird er – im Idealfall – ein ausführliches Anamnese-Gespräch mit ihnen führen, um herauszufinden, was Ihr medizinisches Problem ist. Im übertragenen Sinn wird dies auch in der Pädagogik gemacht: Man arbeitet handlungsentlastet entlang einer bestimmten Fragestellung und methodisch kontrolliert heraus, was überhaupt für ein Fall der protokollierten unterrichtlichen und pädagogischen Wirklichkeit vorliegt und wo darin das Besondere des pädagogischen Handelns liegt. Es geht also um ein Verstehen und Explizieren von Problemstellungen pädagogischen Handelns, das auf theoretische und nicht numerische Generalisierung zielt.

Was wäre denn ein pädagogischer Fall?

Nehmen wir die Aufzeichnungen einer Unterrichtsstunde im Fach Philosophie zum Thema René Descartes – einmal in Deutschland und einmal zum selben Thema in der Schweiz; das sind zwei Fälle zu einem Unterrichtsgegenstand. In der pädagogischen Kasuistik interessiere ich mich dafür wie der identische Gegenstand in zwei Fällen unterrichtet wird: Wo liegen Unterschiede? Wie ist die Logik der Vermittlung, des Verstehens? Wie führt die Lehrkraft in den Gegenstand ein? Wie vermittelt sie ihn? Welche Aneignungsschwierigkeiten haben die Schülerinnen und Schüler? Wie reagiert die Lehrkraft darauf?

Es wird also aus einer einzelnen Situation auf das Ganze geschlossen?

Nicht ganz. Bei einer Induktion zieht man ja – vereinfachend gesprochen – aus einem beobachteten Phänomenen einen abstrahierenden Schluss; bei der Deduktion schließt man aus gegebenen Voraussetzungen auf einen speziellen Fall. In der pädagogischen Kasuistik sprechen wir von einer Abduktion; wir gehen also davon aus, dass Einzelfälle nach eingehender Analyse und Rekonstruktion unter eine gegebene oder noch zu entdeckende allgemeine Regel fallen.

Was kann man im Datenbestand des ApaeK alles finden?

Ein ganz großer Teil des Bestands sind Unterrichtstranskripte, also transkribierte Audio- oder Videodateien, keine Videodatensätze. Daneben sind „Episoden“ von Studierenden archiviert; das sind dichte Beschreibungen von Unterrichtssituationen, die Studierende in ihren Praktika beobachtet haben. Zudem sind Interviewtranskripte aus verschiedenen drittmittelgeförderten Forschungsprojekten verschiedener Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft archiviert, etwa narrative Interviews, in denen krebskranke Menschen davon erzählen, wie sie mit ihrem Krebsleiden umgegangen sind.

„Das Archiv ist auch eine Fundgrube für Erwachsenenbildung und Sozialarbeit.“

Und über 400 Interviews im Archiv stammen aus der recht bekannten Frankfurter Forschungsstelle Center for Drug Research, die sehr viele Projekte im Auftrag der Stadt durchgeführt hat.

Für wen genau sind die Dokumente und Daten interessant?

Ganz klar für Studierende, Lehrende und Forschende! Lehramtsstudenten können für ihre schulpraktischen Studien Vergleichsmaterialien bei uns finden, oder auch Beispiele für gelungene Analysen zu Fallmaterial. Lehrende, und dabei sind nicht nur Hochschullehrerinnen und -lehrer gemeint, sondern auch immer mehr Kollegen aus Studienseminaren, finden bei uns anschauliches Material zu verschiedensten Themen wie Deutschunterricht in der 6. Klasse Realschule oder Episoden zu typischen Disziplinproblemen im Unterricht und natürlich zu alldem wiederum Beispielanalysen.

Dokumente und Materialien, die Lehrende für Beispielanalysen und Studierende für schulpraktischen Studien verwenden können – Forschungsdaten im engen Sinn sind das eher nicht, oder?

Die Reihe „Forschungsdatenentren stellen sich vor“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Verschiedene Wissenschaftlerinnen würden ihnen hier ganz unterschiedliche Antworten geben. Das hängt stark von der wissenschaftstheoretischen und methodologischen Verortung sowie von dem Erkenntnisinteresse ab (lacht). Ein objektiver Hermeneut würde sagen, dass sich das Archiv hervorragend für Forschungszwecke eignet, eine quantitativ orientierte empirische Bildungsforscherin könnte mit dem Material vermutlich nicht viel anfangen. Obwohl, es gibt die Publikation einer Kollegin, die zur Illustration ihrer eigentlich aus quantitativer Forschung kommenden Theorie auf ApaeK und die dort vorhandenen Datensätze verweist. Es ist schön zu sehen, dass beide Forschungsansätze unter bestimmten Fragestellungen miteinander kombiniert werden können. Aber natürlich gibt es eine ganze Reihe von Publikationen, die ausschließlich auf der Basis unserer Datensätze entstanden sind, zum Beispiel eine Habilitation, die sich mit dem Vergleich von Schulkulturen beschäftigt oder eine Dissertation zur Frage der Sozialisationsleistung des Unterrichts mit dem Fokus auf die Verinnerlichung der Melderegel durch die Schülerinnen und Schüler.

Und woher kommen all die Materialien?

Ein großer Teil stammt aus Forschungsprojekten unseres Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt, aber auch aus anderen Fachbereichen wie der Religionspädagogik oder der Mathematik; zum Beispiel hat ein Professor seine gesamten Daten zur Mathematikdidaktik ins Archiv eingespeist. Auch Wissenschaftlerinnen, die im Zuge ihrer Dissertation Daten erhoben haben, stellen uns nach Abschluss ihr Material zur Verfügung.
Der andere Teil des Datenbestands kommt aus Unterrichtstranskripten, die Studierende lehramtsbezogener Studiengänge im Rahmen ihres forschungsbezogenen Praktikums erstellen. Während dieses Praktikums haben sie die Aufgabe, eine Unterrichtsstunde aufzuzeichnen, zu transkribieren, zu rekonstruieren und zu analysieren. Die dabei erhobenen Daten werden überwiegend dem Archiv zur Verfügung gestellt. Aber auch die im Rahmen von Qualifizierungsarbeiten wie Bachelor- oder Masterarbeiten erhobenen Daten fließen teilweise in das Archiv ein.

Wie werden die Daten für Sekundäranalysen aufbereitet?

Auf einen Blick: Das Archiv für pädagogische Kasuistik an der Goethe-Universität Frankfurt

Datenbestand

3368 Datensätze für die empirische Pädagogik. Unterrichtstranskripte und deren analytische Entschlüsselung (u.a. Unterrichtsbeschreibungen, Fallrekonstruktionen) sowie Unterrichtsplanungen und Unterrichtsprotokolle

Sammelschwerpunkt

Dokumentarten zur Erforschung pädagogischer Situationen und Institutionen, zur Rekonstruktion von Lehr-Lern-Prozessen und unterrichtlichen Settings. Offen für jede Form von Fallmaterial

Service

Anmeldungsfreie Recherche in der Archivdatenbank, die Materialien stehen nach einer einfachen Anmeldung zum Download bereit.

Wer nutzt die Daten

Studierende, Lehrende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrpersonal in Studienseminaren bzw. der Lehrerfortbildung.

Zum Archiv für pädagogische Kasuistik an der Goethe-Universität Frankfurt

Die Transkripte und Aufzeichnungen werden von unseren studentischen Hilfskräften auf Rechtschreibfehler hin gelesen und korrigiert, in die Transkripte selbst wird nicht eingegriffen. Dann überprüfen wir noch einmal die Anonymisierung und verfremden Stellen, die beispielweise Rückschlüsse auf natürliche Personen zulassen könnten. Natürlich gibt es noch eine kurze Beschreibung des Datensatzes inklusive Vergabe von Metadaten.

Und wie sieht es mit der Zugangsberechtigung aus?

Da unsere Datensätze weder visuelles noch Audio-Material enthalten und auf die Anonymisierung der Transkripte größten Wert gelegt wird, sind unsere formalen Vorgaben bislang noch nicht allzu restriktiv. Die Anbindung an eine Institution müssen interessierte Nutzer bei uns nicht vorweisen; meist ist ohnehin erkennbar, dass die Anfragen aus Universitäten oder Forschungsinstituten stammen. Aber Nutzer müssen mit der Anmeldung Angaben zu ihrer Person machen, die wir im Zweifelsfall nachprüfen.

Woher kommen die Nutzer des Archivs?

Die Hälfte der Anfragen kommt aus Frankfurt, die andere Hälfte aus Universitäten im deutschsprachigen Raum. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch Studierende, die von ihren Professoren für ihre Abschlussarbeiten das APAEK als Fundgrube für empirisches Datenmaterial empfohlen bekommen. Wenn es manchmal zu 30 Freischaltungen unseres Archivs in wenigen Tagen kommt, wissen wir, dass mal wieder ein einschlägiges Seminar angeboten wird.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich habe gleich zwei Wünsche: Dass unser Archiv auch über forschungsdaten-bildung.de für einen noch breiteren Nutzerkreis zugänglich wird! Dann wünsche ich mir noch, dass sich die Idee der Re- und Sekundäranalyse in der Community weiter verbreitet und wir gemeinsam tragfähige Strukturen, Prozesse und Entscheidungskriterien zur Archivierung von Forschungsdaten entwickeln. Bei der Entscheidungsfindung sollte sich nicht ein Wissenschaftsparadigma allein durchsetzen – Diversität ist auch hier ein positives Merkmal!

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kminek!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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