„Die Verfügbarkeit bereits vorhandener Datenbestände könnte mehr Systematik in die qualitative Forschung bringen“

Zur Nachnutzung von Daten der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung

Open Data in der Bildungsforschung (4)

INTERVIEW Dr. Robert Kreitz ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Methoden der Bildungsforschung an der TU Chemnitz und Sprecher der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Am Rande des gemeinsam von DIPF, Verbund Forschungsdaten Bildung und DGfE ausgerichteten Workshops „Machbarkeit qualitativer Sekundärforschung“ Anfang November 2017 in Frankfurt/Main sprachen wir mit ihm über die Position der DGfE und über die Besonderheiten – und Chancen – der Archivierung von qualitativen Daten der Bildungsforschung.

Prof. Dr. Kreitz, TU Chemnitz und Sprecher der DGfE-Kommission Qualitiative Bildungs- und Biographieforschung

Herr Prof. Kreitz, wie steht die DGfE zur Nachnutzung von Daten der qualitativen Bildungsforschung?

Die DGfE teilt grundsätzlich die Bestrebungen der großen Wissenschaftsorganisationen zur Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung von Forschungsdaten und hat deshalb im September dieses Jahres eine Stellungnahme zur Nachnutzung qualitativer Forschungsdaten in der Erziehungswissenschaft veröffentlicht. Allerdings gibt es in den einzelnen Communities auch Vorbehalte.

Wie kann man diesen Befürchtungen entgegentreten?

Die Idee Datenbestände sekundäranalytisch auszuwerten stammt ja aus der quantitativen Sozialforschung. Quasi als Gegenbewegung zu diesem Mainstream ist in den 70er und 80er Jahren die qualitative Forschung entstanden. Sie präferiert offene Forschungsverfahren und die Forschungsprozesse sind nicht so stark formalisiert. Der mit Archivierung und Bereitstellung von Datenbeständen einhergehende Bürokratisierungsschub  bricht sich an dieser Tradition. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen sich nun bewusst damit auseinandersetzen, was sie nach der Bearbeitung mit ihren Daten machen sollen: Was wäre ein sicherer Ort für eine Archivierung? Welches System könnte man verwenden? Und: Wer soll die Daten verwalten? Solche Fragen tragen aber zu notwendigen Klärungsprozessen bei.

„Die Aufbereitung und Nachnutzung von Datenbeständen würde der qualitativen Forschung gut tun.“

Sehr reizvoll finde ich auch, dass über die heutigen Archivierungsmöglichkeiten Datenmaterial öffentlich zugänglich gemacht werden kann, ohne die Publikation mit der Präsentation des Datenmaterials zu belasten – wie in der Anfangsphase der qualitativen Forschung, als das Material zum Teil noch in den Publikationen dokumentiert wurde.

Eignen sich qualitative Daten denn überhaupt für eine Nachnutzung?

Wir haben es in der qualitativen Forschung mit sehr unterschiedlichen Datentypen zu tun: Es gibt Interviewtexte und Aufnahmen von Realsituationen, Videos oder Bilddateien. Qualitative Daten zeichnen sich aufgrund der Offenheit der Erhebungssituation dadurch aus, dass sie eine Vielzahl komplexer Informationen liefern, die im Rahmen einzelner Forschungsprojekte gar nicht ausgewertet werden können. Aufgrund der Produktivität der Erhebungsverfahren sind die Daten multipel verwendbar.

Haben Sie ein Beispiel für uns?

Letztes Jahr habe ich in einer älteren Studie aus den 80er Jahren zwei biographische Interviews gelesen. Interessant waren Tonfall und auch Stimmung des Interviews, in der sich ein autoritär-paternalistisches Familienmodell ausdrückte. Wenn man heute Interviews mit den gleichen sozialen Gruppen wie in diesen alten Studien machen würde, bekäme man sehr interessante Daten zum sozialen Wandel! In der quantitativen Forschung hätte man große Mühe, nach 30 Jahren die gleichen Fragen noch einmal zu stellen, weil der Kontext dafür gar nicht mehr existiert. Ein methodisches Problem also, das man in der qualitativen Forschung so nicht hat, weil der Kontext, in dem die Daten zu interpretieren sind, mitgeliefert wird.

Was müsste passieren, damit die Archivierung und Nachnutzung von qualitativen Forschungsdaten von allen Beteiligten akzeptiert wird?

Auf jeden Fall müssten Primärforschende und Fachleute, die mit im Umfeld von Archivierung und Nachnutzung entstehenden Fragen Erfahrung haben, zusammenkommen. Auch der Kontakt zu den Drittmittelgebern muss gesucht werden; dort herrschen vielleicht noch ein paar Illusionen darüber vor, welche unerwünschten Rückeffekte ein zu starkes Insistieren auf eine flächendeckende Archivierung qualitativer Materialen hätte. Wenn beispielsweise zu Beginn narrativer Interviews darauf hingewiesen werden müsste, dass das Interview ins Archiv kommt und unter Umständen noch anderen Forschenden zur Verfügung gestellt wird, würde es höchstwahrscheinlich gar nicht mehr stattfinden.

„Eine bessere Kommunikation zwischen Primärforschenden, Forschungsdokumentaren und Drittmittelgebern wäre sinnvoll.“

Auch die guten Empfehlungen des RatSWD und der Verbund Forschungsdaten Bildung sind vielen qualitativ Forschenden an Universitäten und Instituten kaum oder gar nicht bekannt. Und in der Hochschullehre ist es kaum üblich, Studierende systematisch auf die Möglichkeit der Nachnutzung von Daten hinzuweisen. Man fängt frühestens bei der Promotion an, sich Gedanken darüber zu machen, mit welchen Daten man forschen möchte. Es gibt also auf verschiedenen Ebenen noch einiges zu tun!

Würde die Verfügbarkeit von Forschungsdaten die qualitative Forschung eigentlich verändern?

In der Biographieforschung herrschte – und herrscht bis heute – eine sehr starke Heterogenität vor,  von der Auswahl und Art der behandelten Gegenstände bis hin zur Art der Auswertung. Die ersten Untersuchungen der Biographieanalyse beispielweise gingen um das biographische Schicksal von Psychiatriepatienten, um den Prozess von Adoptionen, um Karrieren von Gymnasiasten, um Berufsverläufe von Ingenieuren usw. Hinzu kommt, dass heute 80 bis 90 Prozent der Forschung Qualifikationsarbeiten sind, also vor allem originell sein müssen. All das führt dazu, dass es kaum einen Forschungszweig gibt, an dem mehrere Gruppen gemeinsam arbeiten und aufeinander Bezug nehmen. Eine Zusammenschau und Verfügbarkeit bereits vorhandener Datenbestände könnte also mehr Systematik in die qualitative Forschung bringen, möglicherweise könnte man sogar ihre Erkenntnisfortschritte besser aufzeigen. Meiner Ansicht geht es in der qualitativen Bildungsforschung jetzt darum zu zeigen, wo ihr systematischer produktiver Gewinn liegt.

Haben Sie Ideen, wie sich das ändern ließe?

Man bräuchte Kristallisationspunkte! Es wäre interessant, ernsthaft über Kernthemen der Erziehungswissenschaft nachzudenken und sich zum Beispiel für Karrieren von Gymnasiasten und Studenten (wie Marotzki, Kokemohr und Koller vorschlugen) zu entscheiden. Oder man beschließt Lehrer zum Kerngegenstand zu machen und versucht möglichst viele Interviews und Materialien zu erzeugen, um dann in einer Zusammenschau auf neue Ideen zu kommen. Was man davon hat, wenn auch die qualitative Forschung mit der Archivierung beginnt, führt für mich zu zentralen Fragen: Worin besteht die Überlegenheit der Sekundäranalyse gegenüber der Primärforschung? Lassen sich Dinge verbinden, anders sehen als vorher?

Was erwarten Sie von dem heutigen Workshop?

Eine generelle Strategie im Umgang mit der Sekundärforschung werden wir wohl nicht finden. Ich denke, wir werden ein sehr heterogenes Bild von der Landschaft qualitativer Forschung zeichnen und uns überlegen, wie wir offensiv damit umgehen können. In der Community kann man in Bezug auf die grundsätzliche Machbarkeit von qualitativer Sekundärforschung eine eher abwartende Haltung erkennen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass quantitativ und qualitativ Forschende mehr wechselseitiges Verständnis für ihre Positionen aufbringen. Denn die Praxis der qualitativen Forschung hat ja Traditionen der Sekundärnutzung: in Forschungswerkstätten, mit veröffentlichten narrativen Interviews oder Unterrichtstranskripten. Kolleginnen und Kollegen, die die Datennachnutzung von quantitativer Seite vorantreiben, müssen sehen, dass in der qualitativen Forschung andere Regeln herrschen. Unsere Zurückhaltung ist keine Ignoranz, sondern einfach der Sache geschuldet!

Herzlichen Dank, für das Gespräch Herr Prof. Kreitz!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


Workshop-Bericht erschienen

Der Bericht zum Workshop „Machbarkeit qualitativer Sekundärforschung ist Ende Dezember in der Reihe „forschungsdaten bildung informiert“ erschienen und steht hier zum Download bereit: Potentiale der Sekundärforschung mit qualitativen Daten – ein Workshopbericht. Doris Bambey, Alexia Meyermann, Maike Porzelt: forschungsdaten bildung informiert // Nr. 7 (2017), 11 Seiten

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