„Prozesswissen, Analysefähigkeit und die Fähigkeit, Daten richtig interpretieren zu können werden wichtiger“

Was bewegt die berufliche Bildung? (1)

Unsere Reihe zum Wissenschaftsjahr 2018 – Arbeitswelten der Zukunft

Berufsbildung 4.0 ist ein Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), zu der eine gemeinsame Initiative von BMBF und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) gehört. Seit April 2016 bis Oktober 2018 werden hier exemplarisch Fachkräftequalifikationen und Kompetenzen für die digitalisierte Arbeit von morgen untersucht. Unter dem Dach der Initiative ist dabei eine Vielzahl von laufenden und abgeschlossenen Projekten am BIBB zusammengefasst, deren Ergebnisse auf Wirkungen und Impulse für die Berufsbildung der Zukunft überprüft werden. Berufsbildung 4.0 wurde als Begriff analog zum mittlerweile viel verwendetem Schlagwort Industrie 4.0 gebildet und bezeichnet über den Programmtitel hinaus eine Berufsbildung, die der voranschreitenden Digitalisierung von Arbeits- und Geschäftsprozessen adäquat ist. Wir sprachen mit Dr. Gert Zinke, der die Initiative beim BIBB mit koordiniert und für das berufs- und branchenspezifische Monitoringsystem verantwortlich ist.

Dr. Gert Zinke ist Mitglied im Koordinationsteam des Programms Berufsbildung 4.0 am BIBB

Herr Dr. Zinke, Die Pilotinitiative Berufsbildung 4.0 beruht auf drei Säulen: Berufescreening, Medienkompetenz und Fachkräftebedarf. Welche Berufe und Branchen genau haben Sie untersucht?

Aus den insgesamt rund 355 Ausbildungsberufen haben wir für das Berufe-Screening kriteriengeleitet 14 Berufe ausgewählt. Bei der Berufe-Auswahl ging es uns um eine möglichst breite Vielfalt; z.B. im Hinblick auf Branchen, Wirtschaftszweige, gewerblich-technische, kaufmännische und Dienstleistungsberufe. Berufe wie der Straßenbauer/innen, die Fachkräfte für Lagerlogistik, die Industriekaufleute, der Landwirt, die Mediengestalter/innen und der Orthopädietechnikmechaniker gehören dazu. Ziele der Untersuchung sind, durch die Digitalisierung erkennbare Veränderungen der Berufsprofile zu erfassen und daraus entsprechende Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Aus- und Weiterbildung sowie für die Weiterentwicklung systemischer Rahmenbedingungen zu erarbeiten.

Was bedeutet eigentlich Industrie 4.0?

Die Bezeichnung 4.0 leitet sich aus den Entwicklungsstufen der Industriegesellschaft ab, die mit Elektrifizierung (Stufe 1), Massenfertigung (Stufe 2), Softautomation (Stufe 3) und nun mit Big Data in die vierte Entwicklungsstufe eintritt. Die Industrie-, Lebens- und Arbeitswelt 4.0 begründet sich durch das Internet der Dinge, in dem verbundene Geräte und Maschinen mittels inkorporierter Minicomputer Vorgänge und Abläufe steuern. Es ergeben sich Fragen zu Veränderungen von Produktions- und Arbeitsprozessen: Welche Aufgaben werden von Maschinen übernommen? Welche Tätigkeiten werden sich wie verändern? Welche Beschäftigtengruppen werden profitieren oder mit Einbußen konfrontiert werden? Was sich genau wie verändern wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. (Siehe auch: Personal Magazin 12/2015, Haufe-Verlag, S. 14-17)

Welche Qualifikationsanforderungen konnten Sie in den verschiedenen Berufen und Branchen analysieren?

Leider lässt sich das nicht in drei Sätzen zusammenfassen, dazu ist die Berufswelt dann doch zu komplex, die beruflichen Tätigkeiten und Rahmenbedingungen viel zu unterschiedlich. Aber man kann einen kleinsten gemeinsamen Nenner festhalten: Prozesswissen ist wichtig, Analysefähigkeit, und die Fähigkeit, Daten richtig interpretieren zu können. Die vernetzten Produktions- oder Dienstleistungsprozesse von heute erfordern sehr viel mehr Tätigkeiten zum Beispiel im Hinblick auf Prozessmanagement, Monitoring, Fehleranalyse, Problemlösung und Steuerung.

„Prozesswissen ist wichtig, Analysefähigkeit, und die Fähigkeit, Daten richtig interpretieren zu können.“

Ein gutes Beispiel dafür findet man in der Logistik: Da hat man möglicherweise den typischen Gabelstapler-Fahrer vor Augen, den es so immer weniger gibt. Heute bestimmen Roboter die Warenausgabe in den Hochregallagern – gesteuert und überwacht von Logistik-Facharbeitern. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Arbeitsprozesse im Lager zu kennen und zu koordinieren, Datenanzeigen schnell und richtig einzuordnen und auf Fehlermeldungen angemessen zu reagieren. Vor ähnlichen Aufgaben stehen auch die Verfahrensmechaniker/innen, die ihre Maschinen und Anlagen steuern und kontrollieren müssen. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist aber das Berufsbild des Orthopädietechnikmechanikers.

Können Sie das bitte erklären?

Orthopädietechnikmechaniker und-mechanikerinnen stellen die verschiedensten orthopädietechnischen Hilfsmittel her und passen sie den Bedürfnissen der Patienten an. Das können künstliche Gliedmaßen, also Prothesen, sein, oder Orthesen – Konstruktionen zur Unterstützung von Rumpf, Armen und Beinen. Traditionell war damit in erster Linie eine handwerklich-manuelle Tätigkeit verbunden. Durch die Digitalisierung entfernt sich der Beruf einerseits mehr vom Produkt und nähert sich andererseits mehr dem Kunden an: Die Fertigungsunterlagen werden am Computer erstellt oder direkt durch 3D-Aufnahmen generiert, die Herstellung kann entweder aus dem eigenen 3D-Drucker kommen oder wird von spezialisierten Unternehmen übernommen – die auch international tätig sein können. Globalisierung und Digitalisierung bedingen sich gegenseitig ein Stück weit. Man muss also ganz andere Prozesse überblicken. Und weil die individuelle Beratung der Patienten immer wichtiger wird, spielen im Beruf auch kommunikative Fähigkeiten eine größere Rolle.

Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich daraus für die Ausbildung oder die Ausbilder?

Diese neuen Entwicklungen müssen sich auch in der Ausbildung niederschlagen. Klar, vieles ist noch im Werden, und es ist nicht überall absehbar, welche Prozesse und Entwicklungen sich letztendlich durchsetzen. In vielen Bereichen ist es noch zu früh, zu normieren oder zu standardisieren. Die Ausbildungsordnungen werden auch künftig nur in größeren Zyklen von zehn und mehr Jahren überarbeitet. Umso wichtiger ist, dass Ausbildungsbetriebe selbst von ihrem Bedarf ausgehend und auf Grundlage der Lehrpläne prüfen, wie sie die Ausbildung letztendlich gestalten. Nicht zu vergessen ist, dass Auszubildende häufig im Umgang mit IT affiner sind als ihre Ausbilder. Eine Empfehlung an die Ausbilder wäre also, ihren Auszubildenden gegenüber Offenheit zu zeigen, Neues auszuprobieren und auch gemeinsam zu experimentieren. Da kann die Digitalisierung einen echten Innovationsschub bringen.

„Ausbilder sollten ihren Auszubildenden gegenüber Offenheit zeigen, gemeinsam Neues ausprobieren und auch experimentieren.“

Wenn ein kleinerer oder mittlerer Betrieb zum Beispiel einen 3D-Drucker anschafft, müssen sich zunächst einmal alle in die Funktionsweisen einarbeiten und über die Arbeitsprozesse nachdenken – also überlegen, wo und wie er eingesetzt werden kann, wer ihn wann bedient, was sich daran wie lernen lässt. An dieser Einarbeitung kann man Azubis sehr gut teilhaben lassen, denn sie sollen ja Arbeitsabläufe nicht nur kennen, sondern auch beherrschen lernen.

Was müsste getan werden, damit mögliche Handlungsempfehlungen die Berufsausbildung besser durchdringen?

Wenn es um die Neuordnung von Berufen geht, liegt viel Verantwortung bei den Sozialpartnern, also Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Sie sind meist die Impulsgeber, wenn ein Beruf überarbeitet, neu geordnet oder neu geschaffen werden soll. Deshalb stehen wir mit ihnen im regelmäßigen Austausch und geben unsere Ergebnisse an sie weiter. Geht es darum, auf Grund neuer Technologien veränderte Qualifikationen in die betriebliche Ausbildung zu bringen, sind hier gerade kleine und mittlere Unternehmen besonders herausgefordert. Für deren Unterstützung gibt es beispielsweise die Überbetrieblichen Bildungsstätten (ÜBS). Im Rahmen eines Sonderprogramms wird hier seitens des Bundes in digitale Ausstattung investiert und parallel die Qualität der Ausbildung gefördert. Eine ganz wichtige Rolle spielen die Berufsschulen; abhängig von einzelnen Schulstandorten, regionalen Netzwerken und Bundesländern werden für mich deutliche Unterschiede im Umgang mit der fortschreitenden Digitalisierung sichtbar. Hier lässt sich noch viel voneinander lernen.

Eine zweite Säule der Pilotinitiative ist die „Medienkompetenz“. Was ist in der Berufsbildung darunter zu verstehen?

Eine grundlegende Medienkompetenz oder ein grundlegendes Computer-Anwendungswissen zu vermitteln, ist aus unserer Sicht durchaus Aufgabe der allgemeinbildenden Schulen. Deshalb sind wir sehr froh, dass die KMK im Dezember 2016 Kompetenzbereiche definiert hat, die Zielmarken der Allgemeinbildung sind. Für die Berufsbildung selbst bedeutet Medienkompetenz mindestens zweierlei: Zum einen muss sie den sogenannten „Digital Natives“ vermittelt werden, die zwar über eine hohe „Bedienkompetenz“ ihrer Smartphones verfügen, aber im Ausbildungsalltag eher weniger Kompetenzen für eine angemessene Nutzung aufweisen. Zum anderen muss auch das Ausbildungspersonal – übrigens über alle Betriebsgrößen und Branchen hinweg und an allen Lernorten – so qualifiziert werden, dass es unterschiedliche digitale Medienformate in der Aus- und Weiterbildung angemessen einsetzt.

Und wie definieren Sie Medienkompetenz?

Um es mal angemessen abstrakt zu formulieren (lacht): Im betrieblichen Ausbildungskontext bedeutet es medienbezogenes Handeln innerhalb der Komponenten Mediendidaktik, Medienerziehung und Medienintegration. Damit ist das Lernen und Lehren mit Medien gemeint, also zum Beispiel der Einsatz von Simulationen zur Visualisierung von Abläufen und Funktionen, das Lernen über Medien wie das Einbringen präventiver Maßnahmen gegen Cyberbullying in die Ausbildung und die Integration von Medien in betriebliche Organisationsabläufe – beispielsweise das Einbinden des Betriebsrats, wenn eine Lernplattform eingeführt wird.

Können Sie zum jetzigen Zeitpunkt schon sagen, für welche Branchen und Tätigkeitsfelder künftig vermehrt Fachkräfte gebraucht werden? Und welche Qualifizierungsmaßnahmen dann wahrscheinlich notwendig werden?

Entsprechende Studien kommen da durchaus zu unterschiedlichen Prognosen und Vorhersagen. Fest steht aber, dass mit der Digitalisierung internationale Vernetzung und verstärkter Wettbewerb einhergehen, dass sich Nachfrage und Kosten verändern werden. Zuwächse halte ich am ehesten in personen- und unternehmensbezogenen Dienstleistungsberufen für wahrscheinlich. Rückblickend auf eine Zeitspanne von 2000 bis 2016 erkennen wir im Hinblick auf neu abgeschlossene Ausbildungsverhältnisse Gewinner wie zum Beispiel die Fachkräfte für Lagerlogistik und die Mechatroniker/innen. Rückläufig sind die Zahlen dagegen zum Beispiel bei Bank- und Industriekaufleuten. Die Digitalisierung ist dabei nur eine Ursache der Entwicklung. Akademisierung, Demografie und Konjunkturentwicklung haben mindestens ähnlichen Einfluss. Zurückgehende Nachfrage heißt aber nicht, dass die Berufe nicht interessant sind und auch künftig gebraucht werden. Qualitativ erkennen wir in den meisten Berufen einen Zuwachs an Komplexität. Aus- und Weiterbildung sind hier gefragt. Gerade in diesen Feldern ist für die bereits im Beruf Tätigen Weiterbildung ein Muss.

Vielen Dank für das Gespräch Herr Dr. Zinke!


Aktuell läuft im Rahmen der BMBF-BIBB-Initiative die Befragung „Fachkräftequalifikationen und Kompetenzen für die digitalisierte Arbeit von morgen“, die sich an Vorgesetzte von Fachkräften, an Fachkräfte selbst sowie an Ausbildende richtet. Ziel ist es, heutige und künftige Anforderungen und Rahmenbedingungen für die berufliche Aus- und Weiterbildung im Kontext der fortschreitenden Digitalisierung zu ermitteln. Hier geht’s zur Umfrage: https://uzbonn.de/uzIWeb/?I.Project=bibb_40


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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Abschlussergebnisse des Berufescreenings

6 Kommentare

  1. Ein sehr gutes und wichtiges Interview! Der Arbeitsmarkt ist im Wandel und wir brauchen Chancen für Menschen, deren aktuelle Jobs gefährdet oder sich durch den digitalen Wandel verändern.

    • Haben Sie Ihren Kommentar auf das Interview mit Herrn Dr. Zinke bezogen? Einen Beitrag von H. Tißler gibt es im bildungsserverBlog nämlich leider nicht. Freundliche Grüße, CHristine Schumann

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