Soziale Herkunft und Bildungswege in den biografischen Interviews des Archivs „Deutsches Gedächtnis“

Forschungsdatenzentren stellen sich vor (6): Das Archiv „Deutsches Gedächtnis“

Interviews, Autobiographien, Familienchroniken, Tagebücher und Briefsammlungen – das Archiv „Deutsches Gedächtnis“ sammelt Erinnerungszeugnisse unterschiedlicher Menschen, die einen Bezug zu gesellschaftspolitischen Ereignissen in Deutschland haben. Grundstock des Archivs am Institut für Geschichte und Biografie der Fernuniversität in Hagen bilden Interviews aus den frühen 1980er Jahren, die im Rahmen von zeitgeschichtlichen Forschungsprojekten des Instituts und seiner Vorläuferprojekte geführt wurden. Über die institutseigene Forschung hinaus sammelt das Archiv biographische Interviews aus Forschungen Dritter, die ihre Sammlungen dem Archiv zur weiteren wissenschaftlichen Nutzung überlassen haben. Wir sprechen mit der Leiterin des Archivs „Deutsches Gedächtnis“, Dr. Almut Leh, über den Bestand, seine Bedeutung für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung und die Potenziale, die vor allem das audiovisuelle Material des Archivs in Zeiten fortschreitender Digitalisierung in sich birgt.

Dr. Almut Leh, Leiterin des Archivs „Deutsches Gedächtnis“

Frau Leh, ist das Archiv Deutsches Gedächtnis ein Interview-Archiv?

Nein, das kann man so nicht sagen. Für uns steht die subjektive Erinnerung an die Geschichte im Zentrum. Und diese Erinnerungen gibt es eben nicht nur in Interviews, sondern auch in autobiografischen Texten. Deshalb archivieren wir Erinnerungszeugnisse in Form von Textquellen, sprich Autobiografien, Tagebüchern, Briefsammlungen und – wenn sie Teil der Texte sind – auch Fotografien. Uns interessiert also nicht die Form der Quelle, sondern der Inhalt; deshalb auch die sehr breite materiale Form des Archivs.

„Maßgeblich für eine Archivierung bei uns ist, dass es sich um lebensgeschichtliche narrative Interviews handelt.“

Die Interviews sind uns aber sehr wichtig, weil es sehr wenige reine Interview-Archive gibt. Im Gegensatz etwa zur Hamburger Werkstatt der Erinnerung haben wir einen regional und disziplinär offenen Zuschnitt; unsere Bestände sind also nicht nur für die Geschichtswissenschaft interessant, sondern auch für Bildungswissenschaft, Psychologie, Sprach- und Sozialwissenschaften. Biografische Interviews können immer quer zu den ursprünglichen Entstehungszusammenhängen nachgenutzt werden, deshalb können auch Forschungsfragen bearbeitet werden, die in ganz anderen Kontexten entstanden sind.

Die Reihe „Forschungsdatenzentren stellen sich vor“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Wie ist der Bestand strukturiert?

Anders als im sozial- oder bildungswissenschaftlichen Kontext, wo Interviews projektweise archiviert werden, ist bei uns jedes Interview einzeln in der Datenbank verzeichnet, wobei das Projekt, dem es entstammt natürlich immer mit verzeichnet ist. Der Bestand kann sowohl über Metadaten, als auch über eine Volltextsuche über die Transkripte durchsucht werden. Die Metadaten beschreiben zum einen die interviewte Person: Name, Jahrgang, Wohnort, Herkunft, Berufsbiografie und andere private Daten wie Familienstand oder Anzahl der Kinder; zum anderen die Form der Archivierung: ob es sich beispielsweise um Audiodateien handelt, ob es ein Transkript dazu gibt – was in den meisten Fällen zutrifft – oder wie die rechtlichen Nutzungsmöglichkeiten aussehen; auch Fotos sind verzeichnet. Die Recherche in den Beständen ist oft ein bisschen trickreich, weil nicht immer die passgenauenSuchtermini zur Verfügung stehen und dadurch Fehltreffer produziert werden. Aber wenn ich die Metadatensuche mit einer Volltextsuche über die Transkripte kombiniere, verbessert sich die Qualität der Treffer erheblich. Wir können also Interviews bestimmter Provenienz, sei es ein Projekt, die Herkunft der Interviewpartner oder bestimmte Jahrgänge, herausfiltern und nur deren Transkripte durchsuchen.

Das klingt ziemlich kompliziert!

Ja und nein (lacht). Bei uns melden sich überwiegend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Material für ihre Qualifizierungsarbeiten benötigen, meistens für Promotionen. Aber in letzter Zeit sind es auch mehr Anfragen für Haus-, Bachelor- oder Masterarbeiten. Meist stellt sich erst im individuellen Gespräch heraus, ob und welche Bestände geeignet für die Forschungsfragen sind und wie die Fragen in sinnvolle Suchbegriffe für die Volltextsuche operationalisiert werden können.

„Wir bieten ein mehrstufiges Verfahren an, weil es doch gewisser Recherchefertigkeiten und -strategien bedarf, um fündig zu werden.“

Deshalb führen wir zunächst eine Vorrecherche durch. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse – eine Trefferliste mit Textausschnitten, in der die Suchbegriffe und Metadaten vermerkt sind – können die Nutzenden dann meist schnell entscheiden, ob die Treffer sinnvoll sind und welche Interviews wirklich passend sind.

Was macht die Bestände für die Erziehungswissenschaft so interessant?

Alle unsere Interviews beginnen mit der Aufforderung: „Erzählen Sie uns bitte Ihre Lebensgeschichte“. Und in der Lebensgeschichte spielen Herkunft und Bildungsweg immer eine große Rolle. Die Bildungsbiografie nimmt in allen unseren Interviews einen breiten Raum ein. Für Bildungsfragen im engeren Sinne ist auf jeden Fall das Roeßler-Archiv mit seinem recht großen Bestand von 70.000 Schulaufsätzen aus den 50er Jahren zu nennen, das in das Archiv „Deutsches Gedächtnis“ integriert wurde. Die Schülerinnen und Schüler mussten Aufsätze zu zeithistorischen Themen schreiben wie: Was wissen Sie über den Zweiten Weltkrieg? Wie war Ihre Familie betroffen? Aber auch: Wie sieht Ihr Alltag aus? Wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus? All diese Themen bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für Forschungsfragen. Ich denke da an eine Masterarbeit, in der es um Geschlechterverhältnisse in den 50er Jahren und um den Blick auf die Gleichberechtigung ging. Der Aufhänger war ein Zitat aus einem Aufsatz: „Eine Frau kann ja nicht Bundeskanzler werden“ (lacht).

Auf einen Blick: Das Archiv „Deutsches Gedächtnis“

Datenbestand

Zeitzeugeninterviews, biografische Interviews in schriftlicher Form, auch als Audio- und Videodateien. Dazu schriftliche Erinnerungszeugnisse wie Autobiografien, Familienchroniken, Tagebücher und Briefsammlungen

Sammelschwerpunkt

Biografische Interviews

Service

Individuelle, mehrstufige Betreuung und Unterstützung bei der Recherche in den Beständen

Wer nutzt die Daten

Forschende aus der Geschichts-, Sozial- und Bildungswissenschaft, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ausstellungen und Museen

Sind die Interviews alle online zugänglich?

An sich sind wir ein Präsenzarchiv mit rund 3.000 Interviews und rund 1.000 Textbeständen. Wobei, die Datensätze können sehr unterschiedlichen Umfangs sein: Ein Eintrag in der Datenbank kann sich auf eine einzelne Biografie oder 30 Ordner mit Briefen beziehen. Unsere Interviews sind zu zwei Dritteln transkribiert und über die Metadaten in der Datenbank zu finden. Die Textbestände sind unterschiedlich gut erschlossen. Zurzeit arbeiten wir sehr intensiv daran, eine Auswahl aus unseren Beständen bis zum Sommer 2019 für unser Online-Archiv zu erschließen. Wir wollen zunächst mit Audiodateien und Transkripten von 100 Interviews des Projekts „Lebensgeschichte und Sozialstruktur im Ruhrgebiet“ aus den 80er Jahren starten und dann sukzessive weitere Interviews online zugänglich machen.

Nehmen sie auch neue Datensätze auf?

Neben Daten unserer eigenen Forschungsprojekte an der Uni Hagen, zum Beispiel aus dem Projekt „Erlebte Geschichte – 70 Jahre Freie Universität Berlin“, nehmen wir natürlich auch Datenbestände aus Projekten anderer Institutionen auf. Unlängst haben wir beispielsweise das Kriegskinderarchiv mit 100 Interviews, die der gleichnamige Verein mit Kriegskindern geführt hat, übernommen.

„Wir bekommen zurzeit vermehrt Bestände von Wissenschaftlerinnen, die gerade ihre Arbeitszimmer aufräumen.“

Vermehrt haben wir es in letzter Zeit mit Forscherinnen zu tun, die uns Interviews aus den 80er und 90er Jahren geben: Cordia Schlegelmilch hat uns ihre Interviews mit Taxifahrern zur Akademikerarbeitslosigkeit abgeliefert, Sabine Hering ihre Interviews aus den Projekten zur politischen Erwachsenenbildung der 80er Jahre; oder Marianne Krüger-Potratz – von ihr stammen Interviews aus Brandenburger Schulprojekten. Leider sind diese Bestände oft mäßig dokumentiert, die nachträgliche Dokumentation beschert uns eine ganze Menge Arbeit. Und im Gegensatz zur Hamburger Werkstatt der Erinnerung übernehmen wir auch nicht-transkribierte Interviews, stellen sie als Audiodateien zur Verfügung und arbeiten daran, dass diese in Zukunft über Spracherkennung nutzbar gemacht werden können.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Ihre Arbeit aus?

Durch die Digitalisierung bekommen audiovisuelle Medien auch in der Forschung einen ganz neuen Stellenwert. In unserem Forschungsprojekt zur Spracherkennung in audiovisuellen Daten im Bereich der Digital Humanities beschäftigen wir uns schon seit 2014 damit, wie die digitale Spracherkennung für so schwierige Sprachdaten wie unsere optimiert werden kann. Man hat die Vorstellung, das würde alles prima gehen, weil wir ja schon mit unseren Handys sprechen, aber die alten Tonaufnahmen sind durch Dialekte geprägt und wurden häufig mit sehr viel Hall in Wohnräumen aufgezeichnet. Mit einer digitalen Spracherkennung könnten Interviews, die bislang gar nicht brauchbar waren, nutzbar gemacht werden, indem zum Beispiel Transkripte leichter erstellt werden oder auch eine Suche über Audiosignale möglich wird. Außerdem könnten Transkripte timecodiert werden, so dass man sehr viel komfortabler als jetzt Audio- oder Videoaufnahmen und Transkript in Form von  Untertiteln zusammenführen kann. Analysen würden also nicht wie bisher üblich allein auf Basis des Textes erfolgen, die Berücksichtigung des Audio- und Videomaterials wird die Interpretation auch in eine neue Richtung lenken.

„Unser Credo: Die Audio- bzw. Videoaufnahme ist die eigentliche Quelle, Transkripte sind nur Hilfsmittel.“

Die Quelle wird in der Nachnutzung also attraktiver. Die timecodierten Transkripte sind momentan übrigens auch die größte Hürde für das Online-Archiv: Weil wir das bislang noch alles von Hand machen, hat sich leider ein Rückstau ergeben. Aber ich denke, dass in den nächsten zwei Jahren diese Arbeitsschritte automatisiert sein werden. Dann werden wir auch sehr viel mehr Interviews online stellen können.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Viele Forschende haben ihre Interviews noch Zuhause oder im Universitätsarchiv gelagert, manches ist auch noch in Kommunalarchiven zu finden; auch das ZDF hat in seinem Projekt Gedächtnis der Nation kurze Interviewsequenzen produziert, und das Haus der Geschichte hat seine Zeitzeugen-Interviews über ein eigenes Zeitzeugenportal verfügbar gemacht. Interviews sind an so vielen unterschiedlichen Stellen gelagert, dass es mehr als sinnvoll wäre, einen zentralen Ort zu haben, an dem solche lebensgeschichtlichen Interviews hochgeladen werden können. Dann könnten Wissenschaftlerinnen zentral recherchieren – und idealerweise sogar über Annotationstools gemeinsam an den Interviews arbeiten. Wie das genau zuzuschneiden wäre, müsste man natürlich genauer überlegen.

Vielen Dank für das Gespräch Frau Leh!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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