„Das Selbstverständnis von Lehramtsstudierenden ist fachdominiert und zu wenig auf Fragen der Persönlichkeitsbildung bezogen“

Demokratie und Bildung (3)

Demokratiebildung sollte ein pädagogisches Handlungsfeld in einer der Praxisphasen der Lehrerausbildung sein

FRAGEN AN Wilfried Schubarth, Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam, der sich schon seit den 90er Jahren mit Fragen der Lehrerbildung beschäftigt. Schubarth kam über das BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ zur Demokratiebildung, beschäftigte sich mit dem Thema Wertebildung und, damit einhergehend, wie Themen wie Rechtsextremismus und Gewalt in die Lehrerbildung integriert werden können. Ich habe ihn gefragt, welche Rolle und Bedeutung Lehrkräfte in der Demokratiebildung haben, welche Kompetenzen sie benötigen und wie man sie in der Lehrerausbildung am besten vermitteln kann.

Herr Schubarth, Sie setzen sich dafür ein, dass Lehrkräfte sich nicht nur als Fachvermittler, sondern auch als politische Bildner verstehen sollten. Warum?

Die Schulgesetze geben klar vor, dass Lehrkräfte einen Bildungs- und Erziehungsauftrag haben und junge Menschen zu gemeinschaftsfähigen Bürgerinnen und Bürgern und mündigen Persönlichkeiten erziehen sollen. Das ist immer mit demokratischen Werten wie Achtung der Menschenwürde, Toleranz, Vielfalt und Gewaltfreiheit verbunden! Aktuelle Studien zeigen aber, dass angehende Lehrkräfte gegenüber Politik eher distanziert und ambivalent eingestellt sind und diesen Auftrag so nicht immer sehen. Wir haben es also einerseits mit gesetzlichen Forderungen – und auch der Erkenntnis, dass Demokratie weltweit gefährdet ist – zu tun, andererseits stellen wir aber mangelnde Kompetenzen in Bezug auf demokratische Bildung bei Lehrkräften und Schüler*innen fest. Das zeigen die BertelsmannStiftung, die in einer Studie die Qualität schulischer Demokratiebildung als „mäßig“ eingestuft hat, und die International Civic and Citizenship Education Study (ICCS), die deutschen Schülerinnen und Schülern im europäischen Vergleich eine sehr geringe politische Partizipationsbereitschaft“ bescheinigt.

„In Schule und Gesellschaft wird trotz gegenteiliger Erkenntnisse zu wenig auf die Entwicklung demokratischer Kompetenzen geachtet. Ich nenne das das „Demokratie-Paradoxon“.“

Deshalb finde ich es interessant, dass es bei jeder neuen PISA-Studie einen Aufschrei gibt, diese Studien aber kaum wahrgenommen wurde. Man kann schon sagen, dass PISA der Demokratiebildung geschadet hat, denn die Studie zielt auf so genannte Basiskompetenzen ab, in denen demokratische Kompetenzen nicht enthalten sind. Selbst Andreas Schleicher hat kürzlich empfohlen, soziale Kompetenzen stärker in die PISA-Studie einzubeziehen. Ich hoffe, dass diese Äußerung ernst gemeint und nicht nur ein Reflex auf die Corona-Krise war.

Demokratie und Bildung beim Deutschen Bildungsserver

Das Dossier Demokratie und Partizipation lernen und leben bietet strukturierte Hinweise auf Projekte, Initiativen und Materialien, die zeigen, wie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen demokratische Grundsätze und Mitwirkungsmöglichkeiten vermittelt werden können und extremistischen und demokratiefeindlichen Haltungen vorgebeugt werden kann. Auch Internetquellen unter anderem zum Bundesprogramm „Demokratie leben!“ zur Demokratieförderung und Extremismusprävention sowie Informationen zum Thema Kinderrechte und Partizipation von Kindern, zur Demokratiebildung als Unterrichtsgegenstand in der Schule sowie zur politischen Bildung von Erwachsenen sind hier zu finden.

Woran liegt es, dass politische oder demokratische Bildung eine so untergeordnete Rolle spielt?

Weil Schule sich eher als Institution der Wissensvermittlung sieht und Fragen der Persönlichkeitsbildung leider bis heute vernachlässigt. Die Heterogenität der Schülerschaft mit ihren unterschiedlichen kulturellen, familiären und sozialen Merkmalen fordert Lehrerinnen und Lehrer jeden Tag aufs Neue heraus und zeigt deutlich, dass man sich in den Bereichen Wertebildung und sozialem Lernen stärker engagieren müsste. Das ändert sich erst langsam. Schulen, die unter Druck geraten sind – denken Sie nur an die Rütli-Schule in Berlin –, haben zwar angefangen sich umzugestalten, aber sie sind leider noch eine Minderheit. Auch die Studierenden verstehen sich immer noch eher als Fachvermittler denn als Lernbegleiter oder Erziehungscoach und können deshalb mit Unterrichtsstörungen wie Regelverletzungen oder respektlosem Umgang meist nicht angemessen umgehen. Und leider, das muss man so sagen,  gehört auch die Elternarbeit nicht zum Selbstverständnis von Lehramtsstudierenden.

Welche Haltungen und Kompetenzen versuchen Sie in Ihren Seminaren zu vermitteln?

Das Selbstverständnis von Lehramtsstudierenden ist meist fachdominiert, von der eigenen Schulzeit geprägt und eher wenig auf Fragen der Persönlichkeitsentwicklung bezogen. Deshalb versuche ich die Studierenden dazu zu bringen, ihre eigenen Werte zu reflektieren. Es ist nämlich gar nicht so einfach herauszufinden, zu sagen: Welche Werte sind mir wichtig. Wie positioniere ich mich innerhalb des Spannungsfeldes „Anforderung an die Lehrkraft – Auftrag der Schule – eigene Intentionen“? Das ist Biografiearbeit, die man selbst betreiben muss und nicht einfach vermitteln kann; darauf muss man sich einlassen.

„Es ist wichtig, dass Lehramtsstudierende zunächst ihr eigenes Selbstverständnis klären.“

Einigen Studierenden gelingt das, sie erleben „Aha“-Momente und werden sich klarer darüber, wie sie sich mit ihrer Persönlichkeit in bestimmten Situationen in der Schule oder im Unterricht authentisch und effizient verhalten. Sie sind dann in der Lage ein bestimmtes Verhalten als Vorbild vorzuleben, eine individuelle Unterrichts- und Klassenführung zu entwickeln oder auch einen entsprechenden Umgang mit dem Kollegium zu pflegen.

Welche Werte muss man als Lehrkraft leben, um demokratisches Handeln zu vermitteln?

Zunächst mal müssen Lehrkräfte auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, das beinhaltet ein klares Bekenntnis zu Grundwerten wie Demokratie, Freiheitsrechte, Achtung der Menschenwürde und – selbstverständlich – Vermeidung diskriminierenden Verhaltens. Dann steht natürlich noch die Frage der Eignung für den Lehrerberuf im Raum: Welche Motivation steht bei Studierenden hinter der Berufswahl Lehrer*in? Pädagogen sind ja Experten für Interaktionen und dazu gehören soziale Kompetenzen wie Kritikfähigkeit, die Fähigkeit das eigene Leben strukturieren und damit auch andere führen zu können, und natürlich auch Werte wie Gleichberechtigung, Authentizität, Empathie sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Dazu kommen noch das große Thema Selbstkompetenz und konkrete Kenntnisse demokratischer Regeln. Es ist also ein ganz breites Spektrum von Fähigkeiten, das zur Eignung für den Lehrerberuf führt.

Wie kann Demokratiebildung in die Lehrerbildung integriert werden? Was sind erfolgversprechende Ansätze?

Wie gesagt ist die Biografiearbeit ganz wichtig für angehende Lehrkräfte. Denn an den eigenen Erlebnissen kann man am besten erkennen, wo Probleme entstehen und was passiert, wenn sie nicht aufarbeitet werden  –  zum Beispiel bei Gewalt- oder Mobbing-Erfahrungen.

„Wirkliches Feedback erleben die meisten Studierenden erst in der zweiten Phase der Lehrerausbildung, dann ist manchmal schon zu spät.“

Dann sollte man sich in der Lehrerbildung mit den verschiedenen Formaten, Möglichkeiten und Ansätzen für Wertebildung auseinandersetzen, da stelle ich große Defizite fest. Die Vermittlung demokratischer Werte betrifft ja unterschiedliche Ebenen: den politischen Fachunterricht, das fächerübergreifende Unterrichtsprinzip, die Schulkultur und die Kooperation mit externen, gerne lokalen, Partnern. Und, ganz wichtig, angehende Lehrkräfte brauchen mehr praktische Erfahrungen und Rückmeldungen als sie es bislang haben. Eine sehr gute Idee ist es zum Beispiel, das Thema Demokratiepädagogik als ein pädagogisches Handlungsfeld im Rahmen einer der Praxisphasen während des Studiums aufzunehmen. Wer diesen Schwerpunkt wählt, könnte beispielsweise ein Demokratieprojekt mit Schülern und Fortbildungen im Kollegium planen und umsetzen und als Praxisbericht dokumentieren.

Sie bieten Lehrerfortbildungen zum Thema Rassismus und Rechtsextremismus an. Wie können Lehrkräfte im Unterricht bzw. in der Schule konkret damit umgehen?

Meine These ist, dass Rechtsextremismus an Schulen nach wie vor ein Tabuthema ist. Die aktive Auseinandersetzung damit geht mit dem Eingeständnis einher, ein unangenehmes Problem zu haben, das nicht gerade zu einem besseren Image der Schule führt. Die Hauptaufgabe ist ohnehin Prävention, also dem Rechtsextremismus vorbeugen und bei rechtspopulistischen Äußerungen und Handlungen eben nicht wegschauen, sondern Grenzen deutlich machen und Position beziehen. Als Lehrkraft muss ich im Gespräch bleiben und hinterfragen, denn meist verbergen sich hinter solchen Haltungen Vorurteile oder individuelle Probleme von Schüler*innen. Daraus können emotional sehr stark aufgeladene Diskussionen entstehen, die man nicht scheuen darf. Denn erst über einen sachlichen Austausch lernt man demokratisches Verhalten. Aus meiner Sicht wird eine respektvolle Streitkultur mit klaren und fairen Regeln weder an der Universität noch in der Gesellschaft ausreichend gepflegt.

„Durch eine respektvolle Streitkultur können Schweigen und Polarisierungen durchbrochen werden.“

Und in härteren Fällen ist es sicherlich angeraten, mit entsprechenden Beratungsstellen oder Initiativen zu kooperieren – es gibt sie mittlerweile ja in allen Bundesländern.

Und was kann eine Lehrkraft konkret tun, wenn Sie im Unterricht mit rechtsextremen Äußerungen konfrontiert wird?

Erst mal muss man schauen, ob es ein Einzelfall ist, oder ob das Verhalten der besonderen Situation innerhalb einer  Klasse geschuldet ist. Je nachdem sollte man das Verhalten  in der Schulkonferenz thematisieren, denn im Zweifelsfall muss sich die Schule als Ganzes dazu positionieren. Konkret heißt das: Eine Bestandsaufnahme machen und schauen, wie groß das Problem in der Schule tatsächlich ist, den Rat von Fachleuten einholen, mögliche Strategien eruieren und dann einen Schulentwicklungsprozess einleiten. Meist geht das mit Hilfe von außen am besten, denn ein Kollegium verfügt normalerweise nicht über die Expertise solche Prozesse eigenständig zu koordinieren und zu steuern.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schubarth!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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