„Kontextinformationen sind bei der Sekundäranalyse qualitativer Forschungsdaten entscheidend.“

Über das Zusammenführen und Auswerten eines vielfältigen Datenbestands aus sechs ethnografischen Projekten

Die Soziolinguistin und Ethnographin Ingrid Piller ist in ihrer Studie „Life in a New Language“ an der Macquarie University in Sydney, Australien, einen völlig neuen Weg der Sekundäranalyse von qualitativen Forschungsdaten gegangen.

Halbporträt von Prof. Dr. Ingrid Piller an eine Mauer gelehnt mit Buch in der Hand

Prof. Dr. Ingrid Piller, (Mit-)Herausgeberin von der an der Oxford University Press veröffentlichten Studie „Life in a New Language“.

INTERVIEW mit Ingrid Piller, die seit Januar 2025 eine Humboldt-Professur zur Erforschung der sprachlichen Vielfalt und sozialen Teilhabe im Lebensverlauf an der Universität Hamburg innehat. Gemeinsam mit weiteren fünf Wissenschaftlerinnen hat Prof. Piller im Projekt „Life in a New Language“ die gelebte Erfahrung des Sprachenlernens von Migrantinnen und Migranten über einen Zeitraum von 20 Jahren untersucht und dazu die Daten aus sechs separaten ethnographischen Studien kombiniert. Im Interview erzählt Piller, wie sie als Team die Daten ihrer Primärerhebungen zusammengeführt haben, welche Stolpersteine ihnen im Weg lagen, was sie heute anders angehen würden. Außerdem erzählt Piller von ihrem Ziel, andere Kolleginnen und Kollegen zu motivieren, ähnlich geartete Sekundäranalysen in Deutschland in Angriff zu nehmen.

Liebe Frau, Piller, können Sie uns Ihr Projekt „Life in a New Language“ kurz vorstellen und uns das Setting der Primärerhebungen beschreiben?

Ingrid Piller: Life in A New Language““ beschäftigt sich mit den Sprachlernerfahrungen und den Einwanderungserfahrungen von 130 Migrantinnen und Migranten aus 34 unterschiedlichen, nicht englischsprachigen Herkunftsländern, die in der Zeit zwischen 1970 und 2013 in Australien angekommen sind. Dazu haben meine Co-Autorinnen und ich in sechs ethnographischen Projekten Daten erhoben und sie später im Team neu zusammengeführt, aufbereitet und einer neuen Analyse unterzogen – ein insgesamt fünfjähriger Prozess. Diese Sekundäranalyse bezog sich vor allem auf die Sprachlernerfahrungen der Einwanderinnen und Einwanderer. Wir haben folgende Forschungsfragen gestellt: Wie waren die Lernerfahrungen mit dem Englischen in Australien? Wie wurde ein neuer Freundeskreis gefunden, wie entstanden neue Netzwerke und neue Beziehungen? Wie waren die Erfahrungen mit der Arbeitssuche und am Arbeitsplatz? Was waren die Erfahrungen mit veränderten Familienverhältnissen? Meistens verkleinert sich die Familie im Laufe der Migration ja, und es ergeben sich neue Probleme wie zum Beispiel Fragen nach dem Spracherhalt: Sollen wir die Herkunftssprache an unsere Kinder weitergeben? Wie unterstützen wir ihr Englischlernen? Des Weiteren ging es uns auch noch um Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung und das Schaffen einer neuen Heimat und eines neuen Zugehörigkeitsgefühls.

Untersucht wurden Sprachlern- und Einwanderungserfahrungen von 130 Migrant*innen aus 34 Herkunftsländern, die zwischen 1970 und 2013 nach Australien eingewandert sind.

Mit welchen Erhebungsmethoden haben Sie und Ihr Team bei der Sekundäranalyse gearbeitet – und wie sah der Datenbestand aus?

Ingrid Piller: Wir haben mit unterschiedlichen Datentypen gearbeitet: qualitative Interviews, aufgezeichnete Gespräche und Videoaufnahmen, Selbstberichte und Bilder, die alle mit sehr guten, gehaltvollen Feldbezeichnungen versehen waren. Um sie für die Sekundäranalyse nutzbar zu machen, mussten wir zunächst alle Datensätze mit neuen Codes versehen. Alle sechs Projekte waren ja ethnographische Studien, und die Idee war, so reichhaltige und detaillierte Daten wie möglich zu erhalten. Die Hauptprimärdaten waren individuelle und fokusgruppenbezogene Interviews, die über einen längeren Zeitraum immer wieder zu verschiedenen Themen geführt wurden. Bei der teilnehmenden Beobachtung haben wir Daten von natürlichen Interaktionen erhoben: Am Arbeitsplatz, in der Familie und bei anderen öffentlichen Interaktionen – je nachdem, welchen Zugang uns die Personen gegeben haben. Für unsere Netzwerkanalysen haben wir außerdem erfragt, mit welchem Alter und mit welcher Ausbildung man eingereist ist, mit wem man Kontakt hat, und wie oft und in welcher Sprache man sich unterhält. Dann haben wir auch noch Daten erhoben, die sich „zufällig“ angeboten haben: zum Beispiel Fotos von Büchern, die im Bücherschrank stehen. Aber auch Dinge, die Personen uns zur Verfügung gestellt haben, von denen sie annahmen, dass sie für unser Forschungsthema relevant sein könnten wie ein rassistisches Flugblatt, das eine aus dem Sudan migrierte Familie in ihrem Postkasten gefunden hatte. Auch das Gespräch darüber: „Wie stehen Sie zu diesem Flugblatt? Wie hat es die Kinder beeinflusst?“ ist als Interview in unseren Datenbestand eingeflossen. Grundsätzlich ging es uns um Daten aus dem echten Leben, die für die Teilnehmenden relevant waren. Für uns stand immer die gelebte Erfahrung von Sprachlernen und Migration im Vordergrund und die lässt sich halt nicht normieren.

„Das Ziel ethnographischer Forschung ist ja, die Lebenswelt der Teilnehmenden zu verstehen.“

Wie führt man einen so vielfältigen Datenbestand zu einer für eine Sekundäranalyse nutzbaren Datenbasis zusammen? Für jemanden, der nicht ethnographisch arbeitet, ist das ja kaum nachvollziehbar.

Ingrid Piller: Es war tatsächlich spannend und eine große Herausforderung, die wir aber auch genossen haben. Das fundamentale epistemologische Problem ist natürlich, dass für Ethnographen Daten nie „nur“ Daten sind. Sie benötigen immer einen Kontext! Nur, wie behält man den Kontext, wenn man so vielfältige Daten zusammenführt? Unserem Ansatz liegt die sehr gute Zusammenarbeit meiner fünf langjährigen Co-Autorinnen und mir zugrunde. Vier der Einzelprojekte, die in diese Sekundäranalyse eingeflossen sind, waren von mir betreute Promotionsstudien – ich war mit der Datenerhebung und der Analyse der Primärstudie also von Anfang an vertraut. Eine andere Studie war ebenfalls ein von mir betreutes Postdoc-Projekt, und eine weitere leitete ich selbst. Nach dieser Erfahrung kann ich sagen, dass das Data-Sharing bei qualitativer Forschung – also die Nachnutzung qualitativer Daten – vor allem dann gut funktioniert, wenn die ursprünglichen Wissenschaftlerinnen selbst wieder eingebunden sind. Sie kennen einfach den Kontext der Studie und der Geist der ethnographischen Forschung geht nicht verloren.

Die Studie “Life in a New Language”

Der „Geist der ethnographischen Forschung“?

Ingrid Piller: Ethnographische Studien zeichnen sich durch sehr umfangreiche Kontextinformationen aus, was bei qualitativen Daten nicht unbedingt Standard ist. Das Gute bei unserer Sekundäranalyse ist tatsächlich, dass die an den Einzelstudien beteiligten Wissenschaftlerinnen ihr Kontextwissen mitgebracht haben und gemeinsam gut durchdacht haben, wie die zusammengeführten Daten nachgenutzt werden können. Im Laufe des Data Sharing besteht aus meiner Sicht nämlich die Gefahr, dass die Daten einfach zu digitalen Punkten ohne Kontext werden. Ein Problem, das mir zunehmend wichtig zu werden scheint, und ich hoffe, dass wir mit unserer Arbeit eine Bresche geschlagen haben.

„Beim Data Sharing besteht die Gefahr, dass Daten einfach zu digitalen Punkten ohne Kontext werden.“

Das müssen Sie ein bisschen genauer erklären.

Ingrid Piller: In unserer Arbeit ging es ja um sprachliche und kulturelle Vielfalt in der Einwanderungsgesellschaft; und wenn die Wissenschaftlerinnen diese Vielfalt in gewisser Weise selbst repräsentieren, haben sie ganz andere Möglichkeiten an wichtige Informationen zu gelangen. Deutlich wird das am Beispiel Mehrsprachigkeit: Alle sechs Wissenschaftlerinnen haben unterschiedliche Sprachkenntnisse und konnten deshalb gut mit Personen unterschiedlicher Muttersprache reden. Das erweitert die Möglichkeiten der Forschung erheblich, weil man als Individuum nie so viele Zugänge hat wie ein mehrsprachiges Team – und infolgedessen auch sehr viel detailliertere Daten und eben auch Kontextinformationen erheben kann.

Gab es denn Stolpersteine bei der Sekundäranalyse?

Ingrid Piller: Ich hatte einige „Regrets“ und des Öfteren gedacht „Mensch, das hätte ich besser machen können!“. Angefangen mit der ersten Studie aus dem Jahr 2000 – da hätte ich von Beginn an eine gewisse Systematik reinbringen müssen. Aber vor einem Vierteljahrhundert habe ich überhaupt nicht an Data-Sharing gedacht! Wenn ich das jetzt nochmal machen könnte – und ich hoffe, ich habe noch mal in meinem Leben diese Chance – würde ich das systematischer anlegen und auch die Datenerhebung stärker standardisieren – zum Beispiel haben wir am Anfang Daten zur Familiensituation nicht systematisch erhoben. Am Anfang wurden Aufzeichnungen auch noch auf CDs gebrannt (und sogar Kassetten!) und wenn man nicht von vornherein an eine Nachnutzung gedacht hat, dann ist man erst mal mit einem Haufen von Kassetten und CDs konfrontiert, die erst mal zusammengesucht und sortiert werden müssen. Heute sind die technischen Möglichkeiten natürlich viel besser, und man kann Themen wie Open Science und Data-Sharing von Anfang an mitdenken. In unserem Buch haben wir das sehr offen reflektiert. Ich hoffe also, dass unsere Studie nicht ausschließlich thematisch, sondern auch methodisch auf Interesse stößt, und weiteres Data-Sharing in der qualitativen Forschung inspiriert.

Was würden Sie noch anders angehen?

Ingrid Piller: Jedes unserer Einzelprojekte hatte einen bestimmten Fokus, zum Beispiel auf afrikanische Einwanderer oder auf die Erfahrung von Elternschaft in der Migration. Würde ich sie noch einmal betreuen, würde ich von Anfang systematisch auf ein breiteres Fragenspektrum bestehen. Beim Thema Arbeit hat sich das Systematische von selbst ergeben – alle unsere Teilnehmenden haben über Arbeit gesprochen, einfach, weil es so ein wichtiges Thema für sie war: die richtige Arbeit zu finden, mit der beruflichen Laufbahn wieder von vorne zu beginnen, einfach weil man als Migrant immer von unten anfangen muss und all das, was man sich bereits zu Hause erarbeitet hatte, nicht mehr zählt. Und obwohl nicht jede Studie Arbeit im Besonderen fokussierte, hatten wir über alle Erhebungen hinweg sehr gute Daten dazu; das ist dann auch eine tolle Analyse geworden. Auch zum Thema Diskriminierung, das genauso wenig im Fokus lag, haben sich viele gute Daten ergeben, weil viele Personen einfach so darüber gesprochen haben.

„Nächstes Mal würde ich von Anfang an die Methodik stärker standardisieren, übergreifenden Themen mehr Gewicht geben und ein breiteres Fragenspektrum festlegen.“

Nicht so gesprächig waren die befragten Personen hingegen beim Thema Familie, da hatten wir zu wenig Daten. Um ein besseres und gut nachnutzbares Datenset zu bekommen, würde ich heute auf solche großen Themen deutlich mehr Wert legen. Außerdem ist es schade, dass wir in den ersten zwei Studien Daten zum Einkommen, also sozio-demographische Daten, nicht systematisch erhoben haben. Unsere Interviews sind immer „semi-structured“ und „open-ended“, und manchmal haben wir so halt Themen verpasst, die man leicht noch hätte ansprechen können. Inzwischen bauen wir in alle unsere Untersuchungen auch einen standardisierten soziodemografischen Fragebogen ein, was ja ganz toll in die ethnographische Herangehensweise passt.

Sie haben den Datenbestand aus den ursprünglichen Studien nicht offen zur Nachnutzung zur Verfügung gestellt. Warum?

Ingrid Piller: Das hat zwei Gründe. Der erste ist formaler Natur und nicht mehr zu ändern: In Australien müssen wir bestimmte „Ethics requirements“ einhalten. Bevor eine Studie startet, muss festgelegt werden, ob die erhobenen Daten zur Nachnutzung bereitgestellt werden können. Darüber muss man die Teilnehmenden im Vorfeld natürlich informieren und ihr Einverständnis einholen. Wir haben diese für eine Nachnutzung notwendigen „Ethics Approvals“ nie beantragt, und im Nachhinein geht das nicht mehr.

Der zweite Grund ist prinzipieller Natur: Für ethnographische Forschung würde ich eine allgemeine Datennachnutzung nicht beantragen, denn ich finde das nicht erstrebenswert. In der ethnographischen Forschung ist ein Teil der Analyse nämlich immer auch eine Interpretation dessen, was sich aus der Interaktion zwischen der forschenden und der teilnehmenden Person ergibt – das wird natürlich in entsprechenden Feldnotizen dokumentiert. Deshalb empfinde ich es als schwierig, die Daten unabhängig von der forschenden Person zu sehen. Und das ist ja gerade die große Stärke unserer Arbeit: Die Personen, die diese Daten erhoben haben, haben die Reanalyse auch zusammen durchgeführt; wir sind also gemeinsam in eine neue Interaktion getreten und haben den dialogischen Bezug zwischen Forschenden und „Beforschten“ weitergetragen in den Dialog zwischen den analysierenden Personen. Das empfinde ich als eine große Stärke!

Was bedeutet diese Einheit von „Daten und Forschenden“ für die Diskussion um Open Data? Muss jede Disziplin gesondert betrachtet werden?

Ingrid Piller: Ja, auf jeden Fall muss die Diskussion um Openness abhängig von der Disziplin geführt werden. Aber wir müssen uns auch epistemologische Fragen stellen: Was bedeutet es, wenn eine Realität zu Daten wird? Das hat ja Konsequenzen für unser Verständnis des Forschungsgegenstands!

„Ich finde, dass das Thema „Open Data“ kontext- und disziplinabhängig diskutiert werden muss.“

Zum Beispiel: Ist es wirklich sinnvoll für die Bildungsforschung, alles in Daten zu verwandeln? Oder müssen wir uns nicht eher fragen, ob die Beziehungen zwischen Forschenden und Teilnehmenden, die zwischen Schülern und Lehrkräften, also diese menschlichen Beziehungen, ein ganz wichtiger Teil von Bildung und Erziehung sind? Schaden wir uns nicht selbst, wenn wir nur noch entlang der Logik von Datenpunkten argumentieren können? Müssen wir nicht – im Sinne des Humanismus – eine breitere Perspektive von Evidenzbasierung einnehmen, im Sinne von: Was zählt als ‚evident‘ für unsere Forschung, für unser Verständnis von Realität?

Wenn jemand in Deutschland Interesse hätte, die Daten Ihrer Primärerhebung nachzunutzen, würden Sie dem zustimmen?

Ingrid Piller: (lacht) Nein, weil wir das wegen der ethischen Richtlinien nicht können; wir haben uns ja verpflichtet, diese Daten nicht weiterzugeben. Aber wenn Kolleginnen und Kollegen hier in Deutschland Interesse daran haben, das Projekt nachzubauen oder sich von unserer Methodik inspiriert fühlen und was Neues daraus machen wollen – und ich finde ja, das muss in Deutschland gemacht werden! – würde ich wirklich sehr gerne mit ihnen ins Gespräch kommen und über Möglichkeiten der Zusammenarbeit sprechen.

„Mein Wunsch wäre, dieses Projekt noch einmal in Deutschland zu starten.“

Dann hoffen wir mal, dass Ihr Aufruf, diesen neuen Ansatz der Sekundäranalyse qualitativer Daten in den Bildungswissenschaften bekannt zu machen, Früchte trägt.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Piller!


Ingrid Piller hat seit 1. Januar 2025 eine Humboldt Professur für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg inne. Sie ist Distinguished Professor an der Macquarie University in Sydney, Australien, wo sie auch Direktorin des Adult Migrant English Program Research Centre war. Bevor sie nach Australien wechselte, forschte sie u. a. in den USA, in der Schweiz und in Deutschland. Ihre Promotion schloss sie 1995 in Dresden ab. Sie ist gewähltes Mitglied der Australian Academy of the Humanities und erhielt 2018 den Anneliese Maier-Forschungspreis der Humboldt-Stiftung.


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver.


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