Über Umgang und Erkenntnisse einer Nachnutzung der DESI-Videodaten.
Wie funktioniert die Nachnutzung von Videodaten in der unterrichtsbezogenen Bildungsforschung – und was kann man daraus lernen? Julia Jennek teilt in diesem Interview ihre Erfahrungen und Erkenntnisse.
INTERVIEW mit Julia Jennek, die in ihrer Dissertation 2019 untersucht hat, wie Lehrkräfte Maßnahmen der Binnendifferenzierung im Englischunterricht in der Sekundarstufe einsetzen. Dazu hat sie u.a. den Videobestand der fast 20 Jahre alten Studie DESI – Deutsch Englisch Schülerleistungen International nachgenutzt. Wie das funktioniert hat, auf welche Schwierigkeiten sie dabei gestoßen ist und welche Erkenntnisse sie – sowohl inhaltlich als auch methodisch – aus der Sekundäranalyse der Videodaten gewonnen hat, verrät sie in diesem Interview.
Frau Jennek, was war eigentlich zuerst da? Die Idee für das Thema „Binnendifferenzierung im Unterricht“ oder die Idee der Sekundäranalyse?
Julia Jennek: Bei mir war das Thema zuerst da. Ich habe auf Lehramt studiert und im Praxissemester war ich in einer Gesamtschule, an der die gesamte Bandbreite an Schülerinnen und Schülern vertreten ist – von Kindern aus Diplomatenfamilien mit einem hohen Wortschatz bis zu Kindern, die weniger günstige Voraussetzungen mitgebracht haben. Und ich wusste zunächst nicht, wie ich mit diesen unterschiedlichen Kompetenzniveaus umgehen kann. So kam ich zum Thema Binnendifferenzierung, zu dem ich dann auch meine Masterarbeit geschrieben habe. Das Thema war damals nach dem PISA-Schock auch noch prominenter als jetzt. Es gab viele Studien und Vorschläge, wie man mit den heterogenen Voraussetzungen in einer Klasse umgehen kann. Ich bin einfach neugierig geworden und wollte beobachten, wie Binnendifferenzierung im Klassenzimmer funktioniert. Und klar, als „Allein-Promovierende“, die in kein Projekt eingebunden war, konnte ich nicht einfach 2000 Unterrichtsstunden besuchen. Dann habe ich den Hinweis bekommen, mal nachzuschauen, ob nicht vielleicht Videodaten zu dem Thema existieren – und dann bin ich mit der DESI-Video-Studie fündig geworden.
Könnten Sie beschreiben, wie sie die DESI-Videodaten genau nachgenutzt haben? Wie war das Verfahren?
Julia Jennek: Das Schöne war, dass ich den Zugang zu den Videos über ein einfaches und klares Verfahren beantragen konnte. Natürlich musste ich Auskunft über meine Forschungsfragen geben, aber das war völlig problemlos. Ich hatte schon vorher überlegt, nach welchen Kriterien ich Differenzierungen systematisieren will – die bisherigen Systematisierungen waren in meinen Augen unklar oder haben unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Ich wollte deshalb die Oberflächenstruktur des Unterrichts in den Blick nehmen und bei der Entscheidung, was Differenzierungsmaßnahmen sind, die Perspektive und Definition der Lehrkraft einnehmen. Das System hatte ich also schon, musste es nach der ersten Durchsicht der Videos aber nochmal anpassen – ein klassisch deduktiv-induktives Vorgehen also. Gemeinsam mit zwei anderen Kodierern habe ich dann alle Videos nach Differenzierungsmaßnahmen durchkodiert; super hilfreich dabei waren auch die Transkripte zu den Videos, denn die stammten aus ganz Deutschland – wir hätten ansonsten Schwierigkeiten gehabt, jeden regionalen Dialekt nachzuvollziehen. Am Ende haben wir dann ausgezählt und statistisch ausgewertet, wie häufig welche Differenzierungsmaßnahme stattfindet, wie viele es insgesamt waren, wie viele und welche pro Schulform und so weiter.
Damit es ein wenig plastischer wird: Können Sie uns ein paar Beispiele für Maßnahmen der Binnendifferenzierung nennen?
Julia Jennek: Letztlich geht es bei der Unterrichtsgestaltung darum, dass sie möglichst für alle Lernenden zielführend ist und alle Lernenden entsprechend ihren Fähigkeiten abgeholt und mitgenommen werden – und natürlich einen möglichst großen Lernerfolg sicherstellen. Die klassische und einfachste Form der Differenzierung ist die Unterstützung durch die Lehrkraft. Ein Beispiel: Die Lehrerin erklärt eine Aufgabe und sagt zu einer Schülerin „Maria, ich komme gleich zu dir und helfe dir. Ich weiß, dass du da an einem Punkt ein Problem hast.“ Anderes Beispiel: Die Lehrkraft bittet einen Schüler, der mit der Aufgabe schon fertig ist, seinen Banknachbarn zu unterstützen. Oder einfach Schülerinnen, die sich ohne jede Anweisung gegenseitig helfen. Das sind Differenzierungen, die wir alle kennen und die keine Vorbereitung brauchen.
Binnendifferenzierung kann einfach, aber auch sehr komplex sein.
Man kann Differenzierung auch ins Extrem treiben und super viel vorbereiten. Beim Thema Differenzierung haben viele 2.000 Aufgabenblätter im Kopf; sie denken, dass sie für jede Schülerin und jeden Schüler einzelne Aufgaben zu einem großen Thema vorbereiten müssen – mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden oder unterschiedlichen Hilfsmitteln, die benutzt werden können. Aber das geht auch einfacher, indem man zum Beispiel im Englischunterricht bei unterschiedlich fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern einen Teil das normale Englisch-Deutsch-Wörterbuch benutzen lässt und die anderen auffordert, das einsprachige englische Wörterbuch zu verwenden. Dazu muss die Lehrkraft natürlich wissen, auf welchem Stand ihre Schüler sind, was sie können und was nicht. Und es gibt ja auch sehr ehrgeizige Schülerinnen, die extra gefordert werden wollen – auch das ist noch recht leicht im Unterricht umzusetzen.
Zurück zu Ihrer Sekundäranalyse. Wie sind sie vorgegangen?
Julia Jennek: Die Videos sind ja ein sehr umfangreicher Datensatz, es gibt 210 Videos aus 105 Klassen und wie die Transkripte und die Daten aus dem DESI-Fragebogen. Da sie an zwei unterschiedlichen Stellen hinterlegt waren, musste ich für die anderen Daten einen weiteren Zugang beantragen. Als ich mich an die Arbeit machen wollte, musste ich feststellen, dass Daten und Videos nicht gleich kodiert waren. Die Kolleginnen und Kollegen vom FDZ Bildung im DIPF haben sich aber gleich gekümmert und die Codierungen überarbeitet. Das war ein Moment, in dem ich einige Leute recht nervös gemacht habe – aber letztendlich hat alles geklappt. (lacht)
Die Studie DESI – Deutsch Englisch Schülerleistungen International
- Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe I. Eine quantitative Videoanalyse.
Dissertation, Universität Potsdam, 2019. - Jennek, Julia; Gronostaj, Anna; Vock, Miriam: Wie Lehrkräfte im Englischunterricht differenzieren. Eine Re-Analyse der DESI-Videos. Unterrichtswissenschaft, 47 (2019) 1, S. 99-116
- Unterrichtsbeobachtung (Daten) : DESI und Fragebogenerhebung (Skalenkollektion): DESI
- Eckhard Klieme: Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der DESI-Studie (8 Seiten; pdf)
Welche Hürden gab es noch?
Julia Jennek: Wenn man Daten nachnutzt, muss man ja schauen, was überhaupt erhoben wurde, um dann abzugleichen, ob diese Daten die eigene Forschungsthese überhaupt untermauern können. Allerdings hat man bei einer Sekundäranalyse natürlich nie die Datenlage, die man sich im Idealfall erträumt; da muss man eben pragmatisch sein. Meine These war, dass fachdidaktisch versierte Lehrerinnen und Lehrer seit der Datenerhebung der DESI-Studie im Frühjahr 2003/2004 komplexere Differenzierungsformen im Englischunterricht einsetzen würden. Das war auch in einigen Studien angedeutet worden. Die bei DESI verwendeten Skalen und die Fragen, die man den Lehrkräften und Schülern gestellt hat, entsprachen natürlich dem damaligen Forschungsstand. Mein Problem war nun, dass das heute klassische Modell von Baumert und Kunter aus der COACTIV-Studie erst später veröffentlicht wurde. Die Skalen, die wir heute nutzen, um fachdidaktisches Wissen von Lehrkräften zu erfassen, gab es damals also einfach nicht. Die einzige Sache, die im DESI-Datensatz vorlag, war, ob die Lehrkräfte Englisch studiert hatten oder nicht. Damit hatte sich meine ursprüngliche Forschungsfrage in gewisser Weise erledigt!
„Bei einer Sekundäranalyse hat man nie die Datenlage, die man sich im Idealfall erträumt.“
Das war aber nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussah. Wie gesagt, da muss man ein bisschen pragmatisch sein. Ich kann auch alle beruhigen, die überlegen, vorhandenen Daten sekundäranalytisch auszuwerten und Angst vor genau so einer Situation haben: Kein Gutachter, kein Doktorvater, keine Doktormutter wird einem das als Nachteil ankreiden, weil Datennachnutzung und Datensparsamkeit auch für eine Disziplin wichtige Werte sind, die gut angenommen werden.
Wie sind sie dann weiter vorgegangen?
Julia Jennek: Da die Neucodierung der Datensätze beim DIPF noch zusätzliche Zeit in Anspruch nahm, war genug Zeit, noch tiefer zu fundieren und zu schauen, welche vorhandenen Daten ich nutzen könnte, um diese zu überprüfen. Ich habe dann zum Beispiel die Englischkenntnisse der Lehrkräfte überprüft: Haben sie Englisch studiert oder haben sie Englisch nicht studiert. Auch auf der Schülerebene bin ich so vorgegangen.
Mein Ansatzpunkt war zu schauen, ob Lehrkräfte auf die wahrgenommene Heterogenität der Klasse – abgebildet über die Noten – mit mehr Differenzierungsmaßnahmen reagieren. Wenn man sich also auf die Datenlage und die verwendete wissenschaftliche Methodik einlässt, findet man auch in anderen Datensätzen geeignete Informationen, um der ursprünglichen Forschungsfrage auf den Grund zu gehen.
In Ihrer Re-Analyse der DESI-Daten zeigen Sie auch Konsequenzen für das Studiendesign künftiger videobasierter Unterrichtsforschung auf. Was empfehlen Sie genau?
Julia Jennek: Die DESI-Studie wurden nach den Regeln der stabilisierten Videographie aufgenommen, bei dem eine statische Kamera von vorne in den Klassenraum gerichtet ist – also die gesamten Sitzreihen im Blick hat, und sich während des gesamten Unterrichts nicht bewegt. Eine zweite bewegliche Kamera, die so genannte Lehrerkamera, folgt der mit einem zusätzlichen Mikrofon ausgestatteten Lehrkraft. Ein klassisches Setting also, das vor allem für Klassenunterricht und nicht für Gruppenarbeit geeignet ist. Und weil die Gruppenarbeit nicht gefilmt werden konnte, haben die Lehrkräfte während der Studie diese Methode der Binnendifferenzierung nicht einsetzen können – und ich sie nicht untersuchen.
Bewegliche Kameras bei der Unterrichtsforschung sind sinnvoll.
Was noch?
Julia Jennek: Eine Bereicherung wären auch Informationen über die Unterrichtsvorbereitungen der Lehrkräfte. Man könnte sie um ihre Notizen und verwendeten Unterrichtsmaterialien bitten, zum Beispiel die Seite aus dem Buch abfotografieren und mit archivieren. Toll wäre es natürlich auch, wenn Schülerarbeiten mit archiviert werden könnten, dazu müssten aber die Eltern zustimmen … Insgesamt wäre das nicht wahnsinnig viel mehr Aufwand, würde aber für die Nachnutzung gerade in der fachdidaktischen Forschung sehr viel bringen – weil einfach weitergehende qualitative Analysen gemacht werden könnten, zum Beispiel, wie Schülerantworten einzuordnen sind.
Um qualitative Daten gut nachnutzen zu können, sind Kontextinformationen wichtig.
Denkbar wären auch zweiminütige Videoaufnahmen unmittelbar nach Ende der Unterrichtstunde mit einer kurzen Einschätzung der Lehrkraft, wie die Stunde gelaufen ist oder wo und warum sie von ihrem ursprünglichen Plan abgewichen ist. Also eher einfach umzusetzende Dinge, die aber für eine Nachnutzung superwichtig sind – gerade auch für die Fachdidaktik-Forschung kleinerer Fächer, zum Beispiel die Informatik-Didaktik, die oft Probleme mit einer zu kleinen Datenbasis hat.
Noch ein abschließendes Wort?
Julia Jennek: Ich würde mir wünschen, dass Qualifikanten über die Möglichkeiten der Nachnutzung von Daten besser informiert würden. Viele Betreuerinnen und Betreuer haben das einfach nicht auf dem Schirm und im Studium wird das Thema Sekundäranalyse in der Regel nicht behandelt. Gerade für angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht im Rahmen eines Projekts promovieren, ist das sehr wichtig! Ich jedenfalls kann eine Sekundäranalyse bestehender Datenbestände nur empfehlen!
Vielen Dank für das Gespräch Frau Jennek!
Dr. Julia Jennek promovierte 2019 zum Thema „Binnendifferenzierung in der Sekundarstufe I. Eine quantitative Videoanalyse“ und veröffentlichte 2019 in der Zeitschrift Unterrichtswissenschaft einen Aufsatz zum Thema. Seit 2023 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Digitale Bildung am Department Erziehungswissenschaft der Universität Potsdam und leitet dort das Brokerinnen-Team des Kompetenzzentrums Sprachen/Gesellschaft/Wirtschaft im Kompetenzverbund lernen:digital.
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver