„Die Objektive Hermeneutik ist prädestiniert für die sekundäranalytische qualitative Forschung“

Von einem größeren, gut dokumentierten Bestand archivierter Transkripte könnte die qualitative Bildungsforschung profitieren

Nachnutzung von Forschungsdaten (3) – Die Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung

INTERVIEW mit Dr. Thomas Wenzl vom Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover, der im Rahmen seiner Dissertation zur Unterrichtsforschung auf den Datenbestand des APAEK-Fallarchivs der Goethe-Universität in Frankfurt/Main zurückgegriffen hat. Er ist der Frage nachgegangen, wie sich die Interaktionsstrukturen im schulischen Unterricht im Laufe der Schulzeit entwickeln. Im Rahmen einer Folgestudie hat er die gleiche Frage im englischsprachigen Raum untersucht, die Daten dazu musste er allerdings selbst erheben. Passendes Material zur Sekundärnutzung wurde zwar in der Vergangenheit bereits erhoben, war jedoch nicht zugänglich. Hier erklärt Thomas Wenzl, warum die Forschungsmethode der Objektiven Hermeneutik so gut für die Nachnutzung geeignet ist und welches Wissenschaftsverständnis den allgemeinen Erkenntnisgewinn behindert.

Dr. Thomas Wenzl, Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover

Herr Wenzl, für Ihre Dissertation haben Sie einen Datenbestand aus dem APAEK-Fallarchiv sekundäranalytisch untersucht. Wie sind Sie darauf gekommen?

Auf das Thema meiner Dissertation „Elementare Strukturen unterrichtlicher Interaktion“ bin ich über Umwege gekommen. Ursprünglich wollte ich mich mit Fragen von Schülern im Unterricht beschäftigen, die Interesse an den Unterrichtsgegenständen zeigen. Ich habe also angefangen Unterrichtsstunden zu erheben, musste aber feststellen, dass Schüler gar nicht so oft Fragen stellen – hatte also ein Datenerhebungsproblem! Aber dann hat mich jemand auf das APAEK-Archiv aufmerksam gemacht. Anstatt selbst mühsam Daten zu erheben und zu hoffen, dass irgendwann mal doch ein Schüler eine Frage stellt, konnte ich mir einen umfassenden Bestand von Transkripten downloaden und sie systematisch nach Schülerfragen durchsuchen.

„Das APAEK-Archiv mit seinen hunderten Unterrichtstranskripten war ein Datentraum für mich!“

Ich kann also ganz ehrlich sagen, dass die Arbeit, die ich geschrieben habe, ohne das APAEK-Archiv nicht möglich gewesen wäre! Die sich wiederholenden Interaktionsmuster im Unterricht, die letztlich im Zentrum der Analyse meiner Arbeit standen, hätte ich nie entdecken können, wenn ich nur ein, zwei, drei oder vier Unterrichtstranskripte zur Verfügung gehabt hätte.

Wie ist denn die Akzeptanz in der qualitativen Bildungsforschung, erhobene Daten für die Nachnutzung zugänglich zu machen?

Auf der Ebene persönlicher Bekanntschaft gibt es nach meiner Erfahrung eine sehr hohe Bereitschaft, Daten zu teilen, solange es keine forschungsethischen Bedenken gibt. Wogegen man sich sperrt, ist jedoch eine Verpflichtung, erhobene Daten für eine Nachnutzung aufbereiten zu müssen. Ein Standpunkt, den ich selbst auch teile, weil viele Daten doch einem recht speziellen Erkenntnisinteresse dienen und die Datenaufbereitung in Abwägung zum Nachnutzungspotential einen unverhältnismäßig großen Aufwand darstellen kann. Eine Verpflichtung darf es meiner Ansicht nach jedoch bei Daten geben, die von allgemeinem Interesse sind und deren Erhebung unmittelbar von der Allgemeinheit finanziert wird. Wenn man zum Beispiel in einem DFG-Projekt eigens Mittel für die Erhebung von Daten bekommt, die auch für andere Forscher interessant sein könnten, sollte es mit Einschränkungen selbstverständlich sein, dass man diese auch der Scientific Community zur Verfügung stellt. Allgemein finde ich es im Zusammenhang mit der Datenerhebung wichtig zu betonen, dass diese in den meisten Fällen kein originärer Bestandteil wissenschaftlicher Leistung ist. Versteht man sie jedoch so, führt das dazu, dass diejenigen, die Daten erheben, dauerhaft einen privilegierten Zugriff auf sie reklamieren können – mit der Folge, dass sie sie nicht mit anderen teilen.

„Die Datenerhebung ist in den meisten Fällen kein originärer Bestandteil wissenschaftlicher Leistung, sondern deren Grundlage.“

Aber da scheint es auch wissenschaftskulturelle Unterschiede zu geben (lacht). Ein kleines Beispiel, was damit gemeint ist: In einer Folgestudie zu meiner Dissertation hat mich interessiert, ob das, was im Unterricht in Deutschland passiert, so auch im englischen Unterricht stattfindet. Ich habe also bei einem Kollegen aus England angefragt, ob ich dafür von ihm erhobene Unterrichtstranskripte nutzen könnte. Seine Antwort war nun nicht direkt unfreundlich, brachte aber doch eine deutliche Irritation zum Ausdruck: „Entschuldigen Sie bitte, aber das sind doch meine Protokolle. Sie müssen ihre Daten schon selbst erheben!“ Das führte dazu, dass ich eine

Die Reihe „Nachnutzung von Forschungsdaten“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Menge organisatorischen Aufwand hatte, zwei Mal selbst nach England fliegen musste, um selbst Unterrichtstunden aufzunehmen. Ein gigantischer Aufwand, der nicht notwendig gewesen wäre, wenn es allgemein selbstverständlich wäre, dass man Daten zur Nachnutzung zur Verfügung stellt.

Sie haben qualitative Daten aus der methodologischen Perspektive der objektiven Hermeneutik analysiert. Was bedeutet das genau?

Kern der Objektiven Hermeneutik ist die Idee, dass sich der Sinn sprachlicher Äußerungen – und anderer Formen von Ausdrucksgestalten – rekonstruieren lässt, indem man sie entlang eines intuitiven Regelverständnisses analysiert, also fragt was Aussagen allgemein unabhängig von ihrem konkreten Äußerungskontext bedeuten – und nicht, indem man fragt, was Personen in konkreten Situationen wohl subjektiv meinten. Als Beispiel eine Sequenz aus einem schulischen Dokumentarfilm, die wir auch oft in der Lehre einsetzen: Eine Lehrerin beginnt mit einem Schüler, mit dem sie nicht so recht klarkommt, ein klassenöffentliches Problemgespräch mit der Frage: „Also erstmal, Christian, vielleicht kannst Du sagen: Was hast Du für‘n Problem“. Die Aussage „Was hast Du für‘n Problem“ könnte nun unter Einbezug des Kontextes leicht so gedeutet werden, dass zuerst der Schüler seine Sicht der Dinge auf ihr gemeinsames Problem erläutern darf. Aus der Sicht der Objektiven Hermeneutik aber – wenn man also fragt, was diese Aussage allgemein bedeutet – ist die Aussage eine provozierende, man sucht Streit mit ihr.

„In der Objektiven Hermeneutik fragt man nicht danach, was Leute subjektiv meinten, sondern was sprachliche Äußerungen kontextunabhängig, allgemein bedeuten.“

Für andere Methoden ist es sehr viel wichtiger, den konkreten Kontext von Äußerungen zu kennen, deshalb ist die Objektive Hermeneutik auch so geeignet für Sekundäranalysen. In der Ethnografie zum Beispiel wird es – um ein bestimmtes Feld verstehen zu können – als deutlich wichtiger erachtet, subjektive Erfahrungen in diesem Feld gemacht zu haben. Für die objektive Hermeneutik fällt das weg, weil für sie der Text als Text im Vordergrund steht. Man braucht sich die Frage, was Personen mit Äußerungen in einem konkreten Kontext gemeint haben könnten, gar nicht stellen, sondern fokussiert sich einfach auf den Text!

Warum ist gerade diese Methode so gut geeignet für Sekundäranalysen?

Ziel der Objektiven Hermeneutik ist es, Strukturen zu erforschen, die sich in ganz unterschiedlichen Formen ausdrücken können. Wenn man sich zum Beispiel für eine bestimmte national-kulturell geprägte pädagogische Berufskultur interessiert, kann man davon ausgehen, dass diese Kultur sich nicht nur im Unterricht Ausdruck verschafft, sondern auch in programmatischen Schriften, in der Gestaltung von Schulgebäuden oder auch in Interviews mit Lehrenden.

„Die Objektive Hermeneutik ist prädestiniert für sekundäranalytische qualitative Forschung.“

Deshalb ist es auch immer möglich sich zu fragen, ob für die Untersuchung einer jeweils interessierenden Struktur bereits Datenmaterial vorliegt, auf dessen Grundlage sie untersucht werden kann. Entsprechend ist die Objektive Hermeneutik meiner Ansicht nach geradezu prädestiniert für Sekundäranalysen.

Ist denn die Nachprüfbarkeit der Datengrundlage ein Thema?

In manchen Fällen würde es schon eine Erleichterung darstellen, zu wissen, wie man auf Protokolle nachvollziehbar verweisen kann. Das APAEK-Archiv zum Beispiel gibt für Unterrichtstranskripte an, wie diese zu zitieren sind, was ich sehr hilfreich finde. Aber in vielen Fällen würde es eher unverhältnismäßig erscheinen, wenn man für jede angeführte Textsequenz belegen müsste, wo das komplette Transkript, aus der sie entnommen wurde, in einer Datenbank archiviert ist. Es hängt einfach sehr stark vom konkreten Untersuchungsgegenstand ab, ob und wie die erhobenen Daten für die Scientific Community nachprüfbar hinterlegt werden sollten. Insgesamt muss man einfach sagen, dass die Authentizität von Protokollen praktisch nur sehr selten angezweifelt wird. Denn dafür müsste man ja annehmen, dass Forscher wie Schriftsteller natürlich wirkende Narrationen oder Interaktionen entwerfen könnten, um diese dann zu analysieren. Das ist aber gar nicht so ohne Weiteres möglich.  

Sie nutzen Unterrichtstranskripte auch in der Lehre. Haben Sie ein Beispiel für uns?

Wenn es in einem lehramtsbezogenen Seminar zum Beispiel darum geht, wie Lehrer auf Unterrichtsstörungen reagieren, rekonstruieren wir anhand von Transkripten unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. Dank der Möglichkeit, die Protokolle des APAEK-Archivs mit Schlagwörtern zu durchsuchen, lassen sich geeignete Protokolle auch leicht recherchieren. Und im „Forschungskolloquium Bildungswissenschaften“ erheben und interpretieren Studierende nicht nur selbst Daten, sondern können bei Interesse auch auf Protokolle aus drei am Arbeitsbereich von Andreas Wernet angesiedelten DFG-Projekten zugreifen. Wenn zum Beispiel jemand analysieren möchte, wie Schüler einen Schulaufstieg bewältigen, können wir Protokolle von Familiengesprächen aus einem DFG-Projekt zu den „Mühen des Aufstiegs“ als Ausgangspunkt für eine Masterarbeit anbieten. Grundsätzlich ermuntern wir Studierende dazu, zu recherchieren, ob für die von ihnen ausgewählten Forschungsfragen nicht bereits geeignete Daten vorliegen.

Wie und wo stellen Sie Ihre Datenbestände zur Nachnutzung bereit?

Ich habe in zwei Forschungsprojekten mitgearbeitet, in denen Daten erhoben wurden, die man für eine Nachnutzung hätte aufbereiten können. Bei Interviews, die wir im Rahmen einer Studie zum Praxiswunsch von Lehramtsstudierenden erhoben haben, haben wir uns von vornherein gegen eine Aufbereitung für die Nachnutzung entschieden, weil das Thema einfach zu speziell ist. Anders beim DFG-Forschungsprojekt FAKULTAS, einem Projekt zur universitären Lehre. Hier glauben wir, dass die in diesem Projekt erhobenen Daten für viele interessant sein dürften (Anm. d. Red.: Der vollständige Projektname lautet FAKULTAS – Zwischen heterogenen Lehrkulturen und berufspraktischen Ansprüchen: Fallrekonstruktionen zur universitären Ausbildungsinteraktion im Lehramtsstudium). Entsprechend bereiten wir die von uns erhobenen Protokolle für die Nachnutzung vor. Der Aufwand dafür ist begrenzt. Wir mussten zu Beginn der Erhebung nur überlegen, welche Daten wir erfassen wollen – zum Beispiel, in welchem Semester die Studierenden sind und welche Fächerkombinationen sie studieren. Außerdem mussten wir Transkriptionsregeln festlegen und allgemein für eine einheitliche Gestaltung sorgen – also klare Standards formulieren. Den Bestand der Protokolle aus diesem Projekt werden wir gegen Ende der Laufzeit des Projekts, also Ende 2020, beim Forschungsdatenzentrum Bildung hinterlegen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wenzl!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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