„In diesen Datensätzen sind wahre Schätze verborgen!“

Das Projekt „Schule im Wandel“ nutzt den Datenbestand der „Drei-Länder-Studie“ aus den Jahren 1978/79 nach

Nachnutzung von Forschungsdaten (4) – Die Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

 FRAGEN AN Julia Dohrmann vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, die für ihre Dissertation mit dem Datensatz der „Drei-Länder-Studie“ von der Forschungsgruppe um Prof. Helmut Fend aus den Jahren 1978/79 arbeitet. Dabei konzentriert sie sich auf die Skalen, die sich mit Überzeugungen von Lehrkräften befassen – insbesondere ihre Einstellung zu Förderung und Disziplin und ihre Reformbereitschaft – und wie diese Überzeugungen mit dem Unterricht und Schüleroutcomes zusammenhängen. Ihre Doktorarbeit ist Teil der ersten Studie des DIPF-Projekts „Schule im Wandel“, kurz: SchiWa, bei der die Daten der Drei-Länder-Studie nach heutigen methodischen Standards und aktuellen theoretischen Bezügen reanalysiert werden. Wir sprachen über ihre Erfahrungen mit der Nachnutzung dieses alten Datenbestands.

Frau Dohrmann, Sie promovieren im Rahmen des Projekts „Schule im Wandel“. Woran arbeiten Sie da genau?

Die Drei-Länder-Studie von Helmut Fend Ende der 70er Jahre war eine sehr große Untersuchung von verschiedenen Schulformen in drei Bundesländern, bei der an mehreren Tagen Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte befragt wurden. Ziel des Projekts „Schule im Wandel“ ist es, ein Projekt zu beantragen, um den schulischen Wandel über 40 Jahre historisch und quantitativ nachzuzeichnen; dafür sollen dieselben Schulen mit den gleichen Instrumenten wie damals erneut untersucht werden. Hierfür haben wir im Vorfeld erst mal die Datensätze des bestehenden Datenbestands aufbereitet.

Die Studie birgt einen Datenschatz, der noch lange nicht ausgewertet ist.

Das war viel Arbeit, denn ich musste das ganze Instrumentarium sichten und prüfen, ob die Tests und Fragebögen mit heutigen Auswertungsverfahren immer noch zuverlässig und gültig sind. Inhaltlich beschäftige ich mich damit, wie sich Überzeugungen von Lehrkräften zum Beispiel hinsichtlich der Notwendigkeit von Disziplin bei Lernprozessen und der Förderung von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern auf den Unterricht auswirken. Außerdem untersuche ich, ob Zusammenhänge zwischen Überzeugungen, dem Lehrerhandeln im Unterricht und Schüleroutcomes wie beispielsweise dem Wohlfühlen der Schülerinnen und Schüler bestehen.

Die Reihe „Nachnutzung von Forschungsdaten“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Wie mussten die Daten aufbereitet werden?

Glücklicherweise lagen die Daten schon in einem digitalen Format vor, aber sie waren mit unseren heutigen Statistik-Programmen leider nicht lesbar. Wir mussten sie also erst mal transformieren. Viele (Kontext-)Informationen habe ich nachgearbeitet: Zum Beispiel mussten die Variablen und Werte benannt werden, denn es war nicht immer klar, welche Werte eigentlich hinter den Codes stehen; bei einer Skala von 1 bis 5 wusste ich deshalb nicht: Heißt 1 jetzt „Stimmt völlig“ oder „Stimmt gar nicht“. Das anhand der in DaQS vorliegenden Skalen-Dokumentation herauszufinden und zuzuordnen war ein großer Teil der Arbeit. Das war die reinste Detektivarbeit… Aber jetzt haben wir alle historischen Datensätze aus der Drei-Länder-Studie ‘78/‘79 aufbereitet und können endlich damit rechnen!

Gab es noch andere Herausforderungen?

Um herauszufinden, wie sich das Handeln von Lehrkräften auf die Schülerinnen und Schüler auswirkt, ist es wichtig zu wissen, was die Lehrkräfte im Unterricht eigentlich machen. Das erfahren wir aus dem Schülerfragebogen über Antworten wie „Mein Lehrer merkt sofort, wenn ein Schüler im Unterricht nicht mitkommt“. Um dann herauszufinden, welche Lehrkraft welche Schülerin oder welchen Schüler unterrichtet hat, mussten wir die Datensätze aus den Lehrer- und Schülerfragebogen zusammenführen. Die Zuordnung war nicht immer einfach. Zum Glück hatte Herr Prof. Fend auf Nachfrage noch die Syntax-Files in seinen Unterlagen, aus denen hervorging, wie dieses Matching in der alten Programmiersprache bewerkstelligt wurde.

„Bei der Dokumentation von Daten ist es wichtig an jedes „Fitzelchen“ zu denken.“

Das haben wir dann übersetzt – und siehe da, es funktionierte! Bei der Dokumentation von Daten ist es also wirklich wichtig an jedes „Fitzelchen“ zu denken. Schließlich muss jemand in zehn oder 20 Jahren auch noch mit den Daten arbeiten können!

Ihr Thema ist, wie sich Überzeugungen von Lehrkräften auf Schülerleistungen auswirken. Wie geht man da vor?

Zu Überzeugungen von Lehrkräften gibt es schon relativ viel Forschung, aber hauptsächlich im Hinblick auf fachspezifische Überzeugungen. Nach allgemeinen pädagogischen Überzeugungen wird heute selten gefragt, auch nicht in den großen Studien.
Wenn man basierend auf der Drei-Länder-Studie zum Beispiel wissen möchte, welche Einstellung eine Lehrkraft zur Förderung von leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern hat, also ob und wie man sie im Unterricht fördern sollte, stellt man einzelne Fragen zu diesem Konstrukt zusammen. Zum Konstrukt „Einstellung zur Förderung von schwachen Schülerinnen und Schülern“ gehört beispielsweise die Aussage „Die Rücksichtnahme auf schwächere Schülerinnen und Schüler beeinträchtigt erheblich meinen Unterricht“. Die Lehrkraft kann der Aussage entweder zustimmen oder sie ablehnen. So gibt es für jedes Item mehrere Antwortmöglichkeiten und anhand der Antwortmuster erschließt sich die Einstellung der Lehrerin oder der Lehrers. Das Schöne an dem Datenbestand der Drei-Länder-Studie ist, dass all diese Skalen und Daten schon vorliegen, auch wenn die Aussagen damals zum Teil etwas drastischer formuliert waren als man das heute tun würde.

In einer Vorstudie haben Sie dann überprüft, ob die Fragebogenskalen auch heute noch funktionieren.

Ja. Das große Ziel des SchiWa-Projekts ist es, an den damaligen Schulen eine erneute Erhebung mit den gleichen Instrumenten durchzuführen. Um zu überprüfen, ob das Instrumentarium heute noch funktioniert, haben wir an anderen Schulen die Erhebung mit einem ausgewählten Teil der Instrumente wiederholt, darunter zum Beispiel auch die Frage nach den Überzeugungen von Lehrkräften.

„Das ganze Instrumentarium funktioniert noch immer gut.“

Die Vorstudie hat uns gezeigt, dass die ausgewählten Fragen heute noch immer relevant sind und statistischen Kriterien genügen.

Nachnutzung der Drei-Länder-Studie von 1978/79

Für ein großes SchiWa-Projekt könnten also die ursprünglichen Skalen fast unverändert übernommen werden?

Das ist das Schöne an der sekundäranalytischen Nutzung eines alten Datenbestands – es ist alles schon da! Nach der Rekonstruktion der Original-Skalen haben wir die neue Skalierung mitsamt dem neuen Skalen-Handbuch auch in pedocs dokumentiert. Mit der neuen Skalierung haben wir statistisch geprüft, ob die Items zusammenpassen und jeweils eine Skala bilden – und auch das funktioniert ziemlich gut! Die Kollegen haben damals eben auch schon gute Arbeit gemacht! (lacht) Viele der Original-Skalen und -Instrumente aus der Studie 1978/79 wurden in den 80er und 90er Jahren in der Forschung weiter verwendet, so gesehen gab es also bereits eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit in der Nachnutzung dieser Skalen.

Ist für das Nachfolgeprojekt geplant, die kompletten Daten noch einmal zu erheben?

Die Studie besteht aus insgesamt ca. 50 Skalen, die jeweils sehr vielen Einzelfragen enthalten. Um all das genauso zu erheben, bräuchte man viel mehr Zeit. Mit viel Überzeugung bekommt man heute maximal zwei bis drei Schulstunden Erhebungszeit – die Kolleginnen und Kollegen waren damals zwei komplette Tage in den Schulen, das ist heute undenkbar. Daher müssen wir auswählen und uns auf bestimmte Bereiche konzentrieren, die wir besonders wichtig finden. Deswegen haben wir für die Vorstudie aus den vielen Skalen ein paar ausgewählt und diese dann auch gekürzt.

Welche Themen wurden in der Vorstudie aufgegriffen?

Die Drei-Länder-Studie wurde mit dem Ziel in Auftrag gegeben, die damals neu eingeführten Gesamtschulen mit den Schulen des traditionellen Schulsystems, also Gymnasium, Hauptschule und Realschule zu vergleichen. Darum wurden auch alle vier Schularten erfasst. Heute konzentrieren wir uns auf den Wandel von Schule: den Wandel von Unterricht, den Wandel von Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, den Wandel der Zusammenarbeit innerhalb eines Kollegiums. Wir interessieren uns dafür, ob der Unterricht heutzutage sehr viel anders ist als damals. Es ist ja wahnsinnig spannend: Wie läuft der Unterricht ab? Gehen die Lehrkräfte auf die Schülerinnen und Schüler ein? Disziplinieren sie – und wenn ja, wie?

Sie können die Nachnutzung von Daten also grundsätzlich empfehlen?

Auf jeden Fall! In vielen Datensätzen zur Sekundäranalyse wie der Drei-Länder-Studie sind wahre Schätze verborgen! Die Daten der Drei-Länder-Studie zum Beispiel decken eine enorme Fülle an Themen ab, die Fallzahlen sind groß genug und das Erhebungsdesign ist sehr fortschrittlich. Mit diesen Daten können komplexe Mehrebenenanalysen berechnet werden, bei denen die Schachtelung des Schulsystems in Schüler-Klassen-Schulen statistisch berücksichtigt ist. Und für einen so alten Datensatz ist die Drei-Länder-Studie außerordentlich gut dokumentiert!

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dohrmann!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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