„Interaktivität spielt eine große Rolle bei der Entwicklung eines guten Lernunterstützungssystems.“


Wie Merkmale des Kompetenzerwerbs in ein KI-gestütztes Mentoringsystem des Projekts tech4comp Eingang finden

INTERVIEW mit Heinz-Werner Wollersheim von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Der Professor für Allgemeine Pädagogik koordiniert den BMBF-geförderten Forschungsverbund tech4comp (Personalisierte Kompetenzentwicklung durch skalierbare Mentoringprozesse) mit seinen bundesweit acht Standorten und betreut das Teilprojekt „Didaktische Modellierung und zentrale Steuerung“. Hier erläutert er, welche Merkmale des Kompetenzerwerbs und des Mentorings es ermöglichen, lernprozessbezogene Daten zu erheben, um ein erfolgversprechendes Lernunterstützungssystem aufzusetzen – und warum der Einsatz solcher Mentoringsysteme für klassische deutsche Hochschulen durchaus vielversprechend ist. Für die Entwicklung wurden zwei Testumgebungen aufgesetzt, eines für Studierende der Mathematik und mathematiknaher Fächer, ein anderes für die Bildungswissenschaft, genauer gesagt: für die Lehrerbildung.

Herr Wollersheim, wo liegt der Schwerpunkt Ihrer Arbeit im Projekt tech4comp?

Bei uns steht die Frage nach den Gelingens- und Gestaltungsbedingungen für und von Mentoring im Zentrum – und wie man die erwiesene Qualität von Mentoring für den Erwerb von Kompetenzen skalierbar machen kann. Deshalb interessieren wir uns erst mal prinzipiell für den Prozess des Kompetenzerwerbs im akademischen Bereich. Unter Kompetenzen fassen wir nicht nur das Wissen über ein Fach, eine Domäne, sondern auch kognitive Personenmerkmale wie Selbstvertrauen, Lösungsgewissheit, Stressresistenz und Freude am Tun. Dazu haben wir zwei Testbeds entwickelt, eines für die Bildungswissenschaft und ein zweites für den Bereich Mathematik/Informatik. Das ist bewusst so gewählt, weil wir wissen wollen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es in der mentoriellen Unterstützung des Kompetenzerwerbs in Fächern mit eher diskursorientiertem Wahrheitskriterium wie den Bildungswissenschaften und eher logisch strukturierten Fächern wie Mathematik und Informatik gibt. Dann bringen wir noch eine weitere Komponente ein: Nämlich die Überlegung, dass beim Erwerb von Kompetenzen sehr viel auch von der emotionalen Seite abhängt.

Das Projekt „tech4comp – Personalisierte Kompetenzentwicklung durch skalierbare Mentoringprozesse“

Sie haben ein Moderatormodell für den Kompetenzerwerb entwickelt. Könnten Sie uns das kurz erläutern?

Das Modell beginnt mit der Situation, in der ein Lerner/eine Lernerin bzw. ein Mentee mit einer Aufgabe oder mit einer Anforderung konfrontiert wird – woraufhin sofort eine Erstbewertung stattfindet; in die fließen affektive Komponenten ein wie ‚situative Gestimmtheit‘: Bin ich müde? Oder bin ich ganz begierig darauf, mich damit auseinanderzusetzen? Habe ich Krach mit der Freundin oder Stress mit den Eltern? Auch ‚Umweltfaktoren‘ und die Frage nach dem Bildungshintergrund: Welches Wissen bringe ich mit? Wo kann ich anknüpfen? Bei den ‚non-kognitiven Personenmerkmalen‘ geht es um Fragen wie: Was traue ich mir zu? Welche Erfahrungen habe ich mit dem Lösen von Aufgaben gemacht? Bin ich erfolgs- oder misserfolgsmotiviert? Habe ich eine Selbstwirksamkeitserwartung?

„An praktisch jedem dieser Punkte im Modell kann man Daten erfassen und analysieren. Und genau das versuchen wir in unserem Projekt.“

Am Ende der Erstbewertung können drei Ergebnisse stehen: Wenn Überforderung oder Langeweile eintreten, ist der Prozess zu Ende. Erkenne ich das Ganze als eine Routineaufgabe an, erwerbe ich keine neuen Kompetenzen, sondern festige lediglich meine bisherigen. Kompetenzerwerb setzt also nur dann ein, wenn ich denke „Das reizt mich, tolle Sache!“, und ich die Aufgabe als Herausforderung sehe. Erst dann kommt der oder die Lernende in die Phase der Zweitbewertung, in der interne und externe Ressourcen geprüft werden: Welche Hilfsmittel habe ich? Finde ich vielleicht eine Lösung in der Aufgabensammlung? Wen kann ich fragen? Studierende haben da einen ganz weiten Ressourcenbegriff! Hinzu kommt Vorwissen über das eigene Verhalten: Was weiß ich von mir? Habe ich Mechanismen der Emotionsregulation – also, wie pendele ich mich wieder ein, wenn ich ängstlich oder zornig werde?
Im Idealfall geht es dann in die „Test Operate Test Exit“-Schleife des Kompetenzerwerbs. Die grüne Linie ganz unten zeigt an, wie ich meine internen Ressourcen, meine Lösungsgewissheit, mein Selbstwirksamkeitsgefühl kontinuierlich verändere und im Idealfall aufbaue.

Merkmale des Kompetenzerwerbs: An jedem dieser Punkte will der Forschungsverbund tech4comp für sein Lernunterstützungssystem Daten erfassen und analysieren (CC BY-ND)

Wie kann dieses Kompetenzerwerbsmodell in der Realität ein- oder umgesetzt werden?

In den Testbeds identifizieren wir Möglichkeiten, um lernrelevante Informationen über den Lerner/die Lernerin zu erhalten. Das erste, was wir brauchen, sind Aufgaben, deren Bewältigung wir uns hinsichtlich relevanter Faktoren ansehen. In der Bewältigung von Schreibaufgaben und automatisiertem Feedback können wir beispielsweise erkennen und unmittelbar rückmelden, ob ein Lerner/eine Lernerin zentrale Konzepte eines Seminars kennt und zueinander in Beziehung setzen kann. Wenn es um die situative Gestimmtheit geht, kann man über tragbare Sensoren Informationen über die Herzfrequenz oder den Hautwiderstand erfassen und daraus vielleicht schließen, dass der Mensch im Moment im Stress ist oder ängstlich. Er oder sie könnte dann eine Empfehlung in Richtung Selbstregulation bekommen. Oder wir könnten bei Langeweile fragen, woran es liegt und eine andere Aufgabe vorschlagen. Und bei Überforderung: „Was bräuchten Sie jetzt an dieser Stelle, damit Ihnen die Aufgabe lösbar erscheint?“ Das müsste entweder sprachgestützt vonstattengehen, oder über Fragen, die aus dem Lernunterstützungssystem kommen.

„Interaktivität spielt eine große Rolle bei der Entwicklung eines guten Lernunterstützungssystems.“

Wir können auch in die Handlungsschleife eingreifen, zum Beispiel in die Zielfindung: „Überlegen Sie doch mal: Konfligieren Ihre Ziele möglicherweise miteinander? Wie können Sie das auflösen?“ Wir wollen erforschen, wie die Studierenden den Lernprozess gestalten und wie wir sie mit technikgestütztem Mentoring unterstützen können. Und als Erziehungswissenschaftler weiß ich, dass Lernen erstens sehr individuell und zweitens sehr komplex ist; genau das versuchen wir über das Modell abzubilden.

Das klingt nach einem ziemlich umfangreichen und komplexen Ansatz!

Ja! Die insgesamt acht Projektpartner sind interdisziplinär aufgestellt, sonst könnten wir die Komplexität gar nicht bewältigen. So ergänzen wir die Expertise der Erziehungswissenschaften der Uni Leipzig, der Pädagogischen Psychologie der MLU Halle-Wittenberg und der vorhin schon genannten Testbeds um Learning Analytics-Spezialisten, die an der RWTH in Aachen und am Zentrum für Qualitätsanalysen (ZQA) in Dresden sitzen. Nur so haben wir Zugriff auf Lernprozesse und können Aussagen über Wirksamkeit treffen. Die Partner vom EdTec Lab des DFKI in Berlin unterstützen uns in diesem Zusammenhang mit wissensbasierten Expertensystemen und Verfahren maschinellen Lernens zur Kategorisierung, Empfehlung, Vorhersage.

Die Verbundpartner von tech4comp

Eine wichtige Frage im Kontext von Mentoring ist, wie man Mentee und Mentor zusammenbringt bzw. aufeinander abstimmt – in Präsenz und digital. Auch hier denken wir erst mal vom Prozess und von der Sache her und versuchen das dann IT- und KI-gestützt zu begleiten. Im Moment wissen wir noch nicht, welche Ansätze in diesem Forschungsprojekt erfolgreich sein werden, aber am Ende wollen wir Aussagen darüber treffen, wie Gestaltungskonzepte aussehen, um Mentoring skalierbar, das heißt für möglichst viele Studierende zugänglich zu machen.

Wo stehen Sie im Moment mit dem Projekt?

Wir gehen jetzt in die ersten Feldmessungen. Begonnen haben wir damit, die unterschiedlichen Modelle für ein Lernunterstützungssystem zu entwickeln – u.a. das Kompetenzerwerbsmodell, das didaktische Modell und das Mentoring-Prozess-Modell. Wir sind in engem Austausch mit unseren Projektpartnern und pflegen einen agilen Arbeitsstil. Das macht die Sache zwar nicht unbedingt einfacher (lacht), ist aber sehr wichtig, denn nur so können die jeweiligen Partner sehen, was für welches Testbed zu tun ist. Wir haben ein Projekt im Requirements Bazaar der RWTH Aachen aufgesetzt, in dem wir unsere Anforderungen an die Entwickler formulieren. Die melden uns dann, wo sie uns schnell helfen können, was sie schon haben, oder was sie noch entwickeln müssen. Wir haben unseren Geldgebern ja versprochen, dass wir vorrangig Vorhandenes und Bewährtes nehmen und verbinden und versuchen, daraus ein adäquates Lernunterstützungssystem zu bauen, mit und in dem wir dann Gestaltungskonzepte identifizieren wollen. Damit haben wir im Oktober 2018 angefangen und noch bis März 2022 Zeit. Mit der Option auf Verlängerung können wir im Idealfall bis zu 72 Monate arbeiten – wir liegen also gut in der Zeit!

Was meinen Sie: Wie lange wird es dauern, bis solche Mentoring-Systeme an Hochschulen und Universitäten eingesetzt werden?

Ich bin sicher, dass klassische deutsche Hochschulen künftig ein gemischtes Konzept haben werden und solche Mentoringsysteme sektoral für große Basisveranstaltungen mit festem Curriculum einführen werden. Denn der Aufwand, eine Domäne zu modellieren, ein angepasstes Mentoring- und Kompetenzerwerbsmodell zu entwickeln sowie ein entsprechendes Lernunterstützungssystem zu programmieren und lauffähig zu machen, ist aktuell doch relativ hoch. Aber Standardvorlesungen wie etwa Statistik I und II, die in der Psychologie, bei den Ingenieuren und in der Wirtschaftswissenschaft gehalten werden, könnten – jeweils angepasst – ein klassischer Fall für die Auslagerung in ein IT-/KI-gestütztes Lernunterstützungssystem sein. Den Studierenden würde damit ein hoffentlich besseres Lernen ermöglicht und die an der Stelle frei werdenden Ressourcen könnten beispielweise in der Gruppenarbeit, im Seminar oder in der Einzelbetreuung gewinnbringender eingesetzt werden. Wir wollen am Ende des Projekts auch Aussagen darüber treffen, wie und unter welchen Bedingungen solche Systeme mit möglichst vertretbarem Auswand eingesetzt werden können.

„Lernunterstützungssysteme kommerzieller Anbieter laufen eben nicht über geschützte Netze und nicht über deutsche Server; auch das deutsche Recht ist hier nicht ausschlaggebend.“

Im Moment ringen wir aber noch damit, dass Hochschulen in Deutschland den Anschluss nicht verlieren und wir den kommerziellen Anbietern das Feld nicht vollständig überlassen. Denn bei den Kommerziellen bezahlen sie die Dienstleistungen natürlich mit ihren Daten, und die Daten liegen nicht in geschützten Netzen oder auf Servern in Deutschland, die dem deutschen bzw. dem EU-Recht unterliegen. Das muss einem klar sein!

Künstliche Intelligenz und Bildung

Das Dossier des Deutschen Bildungsservers zum Wissenschaftsjahr 2019: Mit Links zur KI-Strategie der Bundesregierung, zu mit dem Thema beschäftigten Forschungseinrichtungen, zu Informationssammlungen zum Bereich Arbeit und Qualifizierung sowie zu Materialien zur Behandlung des Themas im Schulunterricht.

Gibt es im Hochschulbereich Konkurrenz von kommerziellen Anbietern?

CHE consult pusht im Moment D2L, Desire to learn, eine kanadische Lernplattform, die ziemlich viel Learning Analytics an Bord hat und mit der man schlaue Dinge machen kann! Allerdings sind kanadisches und US-amerikanisches Hochschulsystem nicht mit dem deutschen zu vergleichen. Im nordamerikanischen Hochschulsystem sind die Lehrveranstaltungen so organisiert, dass sie von der ersten bis zur 15. Woche Aufgaben haben – mit laufend Hausaufgaben, Midterms-Exams und Abschlussprüfungen. Und die Daten, die über diese Plattform erzeugt werden, geben beispielweise die Erfolgswahrscheinlichkeit her, dass der/die Studierende das Pensum und die Prüfungen zu einem bestimmten Zeitpunkt schafft – ob sie z.B. bei 82 Prozent oder bei nur noch 49 Prozent liegt. Im deutschen System haben wir in vielen Fächern so eine Struktur gar nicht, deshalb passen solche Angebote nicht für das deutsche Hochschulsystem. Und an die Ebene der für uns so wichtigen Learning Predictives kommen wir mit solchen Plattformen auch gar nicht ran!

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wollersheim!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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