„Kurz vor Projektabschluss ist kaum mehr Zeit für die Dokumentation der Forschungsdaten.“

Forschende sollten ihre Scheu überwinden und so früh wie möglich den Kontakt zu Forschungsdatenzentren suchen

Nachnutzung von Forschungsdaten (5) – Die Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

GESPRÄCH mit Patrick Schreyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der TALIS-Videostudie Deutschland, und Nadeshda Jung, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verbund Forschungsdaten Bildung und beim Forschungsdatenzentrum Bildung, die bei der Aufbereitung und Dokumentation der bei der TALIS-Videostudie Deutschland entstandenen Videoaufzeichnungen sehr eng kooperiert haben. Hier berichten der Doktorand und die Dokumentarin des DIPF | Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation über ihre Zusammenarbeit: Warum sie schon in einer so frühen Phase der Projektbeantragung begann, was sie voneinander gelernt haben und warum sie allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern empfehlen, sich so früh wie möglich an Forschungsdatenzentren zu wenden.

Herr Schreyer, können Sie uns kurz erklären, worum es in der TALIS-Videostudie Deutschland geht?

Patrick Schreyer: Ziel der Studie, die ja Teil der internationalen OECD-TALIS-Videostudie „Teaching and Learning International Survey“ ist, war es, vertiefte Einblicke in Unterrichtsprozesse des Mathematikunterrichts zu gewinnen und herauszufinden, wie diese mit dem Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern in Verbindung stehen. Dazu hat ein Forschungsteam in 50 Mathematikklassen der Sekundarstufe 1 die mathematische Unterrichtseinheit zum Thema „quadratische Gleichungen“ begleitet. Um ein ganzheitliches Bild des Mathematikunterrichts zu gewinnen und Unterrichtsmerkmale mit dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler in Verbindung setzen zu können, wurden Videoaufzeichnungen des Unterrichts mit Leistungstests, Befragungen der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte verknüpft. Als nationale Ergänzung – also unabhängig von den quadratischen Gleichungen – gab es noch eine dritte Videoaufzeichnung zu einem beliebigen Thema. Bei den Aufzeichnungen wurde den Lehrkräften die Anweisung gegeben, ihren Unterricht so zu führen, wie er tagtäglich stattfindet. Dann wurden im Klassenraum zwei Videokameras aufgestellt, eine starr montierte im vorderen Bereich, um die Klasse einzufangen, eine im hinteren Bereich, die die Lehrperson ständig im Blick hat. Zusätzlich wurden noch einzelne Audiogeräte eingesetzt, damit das Akustische noch besser eingefangen werden kann.

Die Reihe „Nachnutzung von Forschungsdaten“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Das klingt nach einem wirklich großen Aufwand! Wie viele Datensätze sind daraus entstanden?

Nadeshda Jung: Wir haben 138 Unterrichtsbeobachtungen, also 276 Videodatensätze, weil es ja Aufzeichnungen aus Lehrer- und Schülerperspektive gibt! Und weil das Erheben und Aufbereiten solcher Daten sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, sollte man die Datenbestände solcher Studien auch unbedingt zur Nachnutzung bereitstellen. In der TALIS-Videostudie Deutschland steckt nämlich sehr viel mehr Analysepotenzial drin als im Primärprojekt ausgewertet wird. Und das, obwohl das Netzwerk Unterrichtsforschung groß ist!

„Mit dem Datenpool der TALIS-Videostudie Deutschland können noch sehr viele offene Fragen zur Unterrichtsqualität erforscht werden.“

Patrick Schreyer: Und das sind nur die Datensätze aus der deutschen Erhebung! Insgesamt haben acht Länder an der internationalen TALIS-Videostudie teilgenommen; deren Videos verbleiben allerdings in den Ländern selbst. Auf OECD-Ebene wird aber an einer Global Video Library gearbeitet, in der ausgewählte Videoausschnitte archiviert werden sollen. Die deutschen Videos werden allerdings nicht Teil dieser Videolibrary sein, die datenschutzrechtlichen Auflagen in Deutschland haben das nicht zugelassen.

Nadeshda Jung: Ich bin froh, dass wir die TALIS-Videodaten bei uns im FDZ haben! Zusammen mit den Datensätzen des Pythagoras-Projekts und einem Datenbestand zum Mathematikunterricht in der DDR können wir im FDZ Bildung jetzt nämlich Datensätze für eine Untersuchung des Mathematikunterrichts über eine längere Periode bereitstellen.

Die TALIS-Videostudie Deutschland im FDZ Bildung

Warum eignet sich TALIS für die Sekundärforschung und was lässt sich beispielsweise damit erforschen?

Patrick Schreyer: Die TALIS-Videostudie Deutschland ist in einem internationalen Kontext entstanden. Man hat versucht, die Aspekte, die den Unterricht in dem jeweiligen Land ausmachen, aufzufangen und in die Instrumente einfließen zu lassen. Gerade in die Fragebogen sind viele schon evaluierte Fragebogen-Skalen, zum Beispiel aus den PISA-Studien, eingeflossen. Und bei den Beobachtungsinstrumenten, den Videoaufzeichnungen, oder Videographien, wurde auf international relevante Konstrukte zurückgegriffen, die sich übrigens in allen Instrumenten wiederfinden. All das zusammengenommen bildet einen ziemlich großen Rahmen, der wirklich viele Fragestellungen zur Erforschung von Unterrichtsqualität ermöglicht. Wir haben einen riesigen Datenpool! Ein Schatz, übrigens auch für internationale Fragestellungen.

Alle eingesetzten Instrumente wurden in einem internationalen Konsortium gemeinsam mit den nationalen Teams erarbeitet.

Herr Schreyer, Sie haben sich bereits vor Projektbeginn Unterstützung beim Forschungsdatenmanagement geholt. Warum war Ihnen das so wichtig?

Patrick Schreyer: Wir haben tatsächlich schon bei der Projektbeantragung und Projektplanung festgelegt, die Daten so zu sichern, dass interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sie für ihre Forschung nachnutzen und sie auch im Rahmen der Lehrerausbildung für Schulungszwecke eingesetzt werden können. Dazu brauchten wir kompetente Auskünfte darüber, wie mit dem Thema Datenschutz umzugehen ist. Da gibt es ja einiges zu beachten! Außerdem wollten wir wissen, wie wir unsere Daten aufbereiten müssen, um sie in der richtigen Form zur Archivierung übergeben zu können.

Nadeshda Jung: Die erste Beratung haben die Kolleginnen und Kollegen zum Thema Einwilligungserklärung gesucht. Gerade bei Videodaten ist die Einwilligung der gefilmten Personen entscheidend, weil sowohl Gesicht als auch Stimme personenbezogene Daten sind. Wenn man da etwas falsch formuliert, müsste man den Personenbezug aus den Daten herausnehmen – das ist aber sehr aufwändig und führt vor allem zu einen hohem Informationsverlust. Wir haben deshalb gemeinsam an einer Einwilligungserklärung gearbeitet und Unklarheiten mit einem Rechtsanwalt rückgekoppelt.

Wann sind die Daten denn für die Nachnutzung verfügbar?

Patrick Schreyer: Für die Scientific Community werden die Daten erst zugänglich sein, wenn die Sperrfrist endet. Das wird voraussichtlich Ende des Jahres sein, denn zunächst müssen der internationale Bericht und der nationale Bericht der TALIS-Videostudie Deutschland veröffentlicht sein. Allerdings haben wir noch eine Rückkopplung mit dem FDZ Bildung vereinbart: An einer Sekundäranalyse interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhalten nicht automatisch einen Zugriff auf die gewünschten Datenbestände, das muss in Rücksprache mit uns jeweils nochmal geklärt werden. Für uns war es aber erst mal wichtig, die Daten für die an der TALIS-Videostudie Deutschland beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den verschiedenen Standorten zugänglich zu machen.

Nadeshda Jung: Schon während der Projektlaufzeit einen besonderen Zugang für die beteiligten Forscherinnen und Forscher einzurichten, war für uns ein ganz neuer Workflow. Normalerweise kriegen wir die Datenbestände ja erst, wenn das Projekt abgeschlossen ist; wir konnten also besonders eng mit dem Datengebenden zusammenarbeiten. Meistens sind die beteiligten Wissenschaftlerinnen bei der Übergabe schon wieder in ganz Deutschland verstreut, und es ist für alle Beteiligten mühevoller, die noch fehlenden Informationen für die Erschließung des Datenmaterials zusammenzutragen.

Die TALIS-Videostudie “Teaching and Learning International Survey”

Die Studie untersucht die unterschiedliche Wirksamkeit von Mathematikunterricht in verschiedenen Ländern. Ziel der 2016 gestarteten OECD-Videostudie „Teaching and Learning International Survey“ (TALIS-Video) ist es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, was guten und erfolgreichen Mathematikunterricht in verschiedenen Ländern ausmacht und wie Unterrichtsprozesse mit dem Lernerfolg sowie motivationalen Merkmalen von Schülerinnen und Schülern in Verbindung stehen. Um einen Vergleich innerhalb und zwischen den Ländern zu ermöglichen, wird in allen Klassen dieselbe Unterrichtseinheit zum Thema „quadratische Gleichungen“ untersucht. Durch das Längsschnitt-Design umschließt die TALIS-Videostudie Lernvoraussetzungen, Lehr-Lern-Prozesse und Lernergebnisse der mehrwöchigen, exemplarisch ausgewählten Unterrichtseinheit.
Die „TALIS-Videostudie Deutschland“ schließt an TALIS-Video an und wird vom DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation im Rahmen eines Forschungsnetzwerks bearbeitet.

Herr Schreyer, wie wurde am DIPF in der Vergangenheit mit Videodaten umgegangen?

Patrick Schreyer: Am DIPF haben wir seit 2016 eine Richtlinie zum Umgang mit Forschungsdaten, auch die Videodaten des Pythagoras-Projekts werden zum Beispiel beim FDZ Bildung gehostet. Ich kenne auch Kolleginnen und auch einzelne Projekte, die auf diesen Bestand bereits zugegriffen haben. Wie es bei der TALIS-Videostudie Deutschland ohne das Engagement der Kolleginnen auf beiden Seiten konkret gelaufen wäre, weiß ich gar nicht. Ich hätte es aber sehr schade gefunden, wenn unsere Datenbestände einfach in einer Schublade verschwunden wären – allein schon wegen des innovativen Forschungsdesigns der Studie! Grundsätzlich wäre es aber wünschenswert, wenn bei künftigen Videostudien bereits bei der Projektplanung die spätere Nachnutzung mitgedacht und geregelt würde.

Frau Jung, was nehmen Sie an Erkenntnissen aus der Zusammenarbeit mit?

Nadeshda Jung: Es hat sich bestätigt, dass man umso besser zusammenarbeiten kann, je früher man in den Prozess einsteigt! Gerade in qualitativen, also eher nicht standardisierten Datenbeständen steckt viel implizites Wissen, das eigentlich nur die Datengebenden kennen und an uns weitergeben können. Wir können wiederum Hilfestellungen geben, wie man dieses Wissen verschriftlicht, um es für Nachforschende verfügbar zu machen. Aber im Bereich der qualitativen Forschung sind wir auch auf neue Fragestellungen gestoßen, die für uns als Infrastruktur relevant sind; beispielsweise überlegen wir, eine Handreichung für die Kontextualisierung von Videodaten zu erarbeiten. Auch beim Urheberrecht von Unterrichtsmaterialien sind wir auf Fragen gestoßen, die erst im Kontext der TALIS-Videostudie Deutschland aufgetaucht sind. Das sind wichtige Erkenntnisse und Informationen, die wir als Best-Practice-Beispiele und Handreichungen in die Fachcommunity und in die Bildungsforschung zurückspiegeln werden.

Je früher Wissenschaft und Forschungsdatenzentren zusammenarbeiten, desto besser können Forschungsdaten für eine Nachnutzung erschlossen und dokumentiert werden.

Ihre Erwartungen an die Zusammenarbeit sind also erfüllt worden?

Nadeshda Jung: Auf jeden Fall, denn wir haben von den Projektkolleginnnen und -kollegen sehr viele Informationen zurückbekommen. Die Erfahrungen, die wir hierbei gesammelt haben, werden wir auch in die Fachcommunity zurückspielen können – zum Beispiel, wie die Einwilligungserklärungen bei den Genehmigungsbehörden ankamen. Die Zusammenarbeit war sehr fruchtbar, natürlich auch weil die Wege kurz waren, wir sind ja alle im selben Gebäude.

„Die fruchtbare Kooperation hat auf beiden Seiten zu Mehrwerten geführt.“

Bei Fragen zum Forschungsdatenmanagement im Bildungsbereich kann ich den Forschenden also nur empfehlen, sich an den Verbund Forschungsdaten Bildung zu wenden. Je nach Datenmaterial können wir dann das passende Forschungsdatenzentrum auswählen. Von einer frühen und engen Zusammenarbeit profitieren wirklich beide Seiten!

Herr Schreyer, auf welche konkrete Unterstützung hätten Sie nicht verzichten wollen?

Patrick Schreyer: Wie die Kollegin schon sagte: Die Aufklärung über die Einverständniserklärung – also, welche Formulierungen für eine Weiternutzung unabdingbar sind – war extrem wichtig. Und dass wir bei der Arbeit an der Erhebung gleich mitbedenken konnten, wie man das Material für eine sinnvolle Archivierung aufbereiten kann, hat den Arbeitsprozess leichter und transparenter gemacht. Es stecken ja ganz viele Schritte darin: die vielen Transkriptionen zu den Videos, oder dass die Videos gewisse Standards erfüllen müssen – zum Beispiel, dass Personen, die nicht mehr im Bild sein dürfen, gleich verpixelt werden. Wenn man das alles nachträglich nochmal rekonstruieren muss, ist das unglaublich aufwändig. Gut war auch, dass uns das Problem mit sensiblen Inhalten wie Krankheit, Gewerkschaft und Sexualität gleich zu Beginn mitgeteilt wurde. So konnten die Hilfskräfte bei der Transkription der Videos gleich darauf achten und auffällige Stellen markieren. Manchmal stößt man beim Datenschutz allerdings auch an seine Grenzen. Wir hätten zum Beispiel gerne Sitzpläne zu den Videographien und Transkripten mithochgeladen, aber dann hätte man den aufgenommenen Schülerinnen und Schülern Namen genau zuordnen können. Auf gewisse Sachen muss man halt verzichten.

Was war für Sie die eindrücklichste Erfahrung in der Zusammenarbeit?

Patrick Schreyer: Dass es hier am DIPF ein Team mit Expertise gibt, an das man sich schon während der Projektplanung wenden kann! Ich würde jedem empfehlen, seine Scheu zu überwinden und so früh wie möglich, den Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen von Forschungsdatenzentren aufzunehmen. So kann der Workflow gleich von Anfang an besprochen werden: Wie müssen die Daten am Ende aussehen? Was muss mitgeliefert werden? Auch um nicht kurz vor Projektabschluss dazustehen und noch Dokumentationen erstellen zu müssen, wenn dafür niemand mehr Zeit hat! Und das Schönste für mich war, die Festplatte zu überreichen. Das war ein echter Höhepunkt – jetzt ist es geschafft!

Nadeshda Jung: Ich fand das neue Datenmaterial wirklich spannend, weil ich allein durch die Sichtung und Aufbereitung der Videos die Entwicklungen im Mathematikunterricht sehen konnte. Der Overhead-Projektor, der sich wirklich sehr lang und sehr hartnäckig im Unterricht gehalten hat, scheint langsam aber sicher ausgedient zu haben – jetzt werden interaktive White Boards genutzt. Außerdem ist der Bestand der TALIS-Videostudie Deutschland von der Qualität her sehr gut: Es gibt kein Flimmern und kein Rauschen, man kann ihn sich wirklich gut anhören und anschauen!

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schreyer und Frau Jung!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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