Lehren und Lernen mit digitalen Medien – aktuelles Forschungswissen aus dem 3. Reviewband des Metavorhabens Digi-EBF für Lehrkräftebildung, Schule und Bildung in Kindheit, Jugend und Familie.
Ein Beitrag von Michaela Achenbach
Digitale Medien sind aus Lehr- und Lernsettings kaum mehr wegzudenken – dies gilt sowohl für die Präsenz als auch für hybride oder rein digitale Formate. In fünf Critical Reviews beleuchtet der im Dezember 2022 erschienene Band „Bildung im digitalen Wandel. Lehren und Lernen mit digitalen Medien des Metavorhabens Digitalisierung im Bildungsbereich (Digi-EBF) Forschungsstand und Forschungsperspektiven in diesem Feld. Im Interview mit den Autorinnen Jessica Kathmann (IWM – Leibniz Institut für Wissensmedien), Anna Heinemann (Learning Lab – Universität Duisburg-Essen) und Iris Nieding (Institut Arbeit und Qualifikation – Universität Duisburg Essen) schauen wir auf aktuelles Forschungswissen zu unterschiedlichen Aspekten des digitalen Lehrens und Lernens in den drei Bildungssektoren Lehrkräftebildung, schulische Bildung und Bildung in Kindheit, Jugend und Familie. Wir fragen nach Motivation der Akteur*innen, Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Gelingensbedingungen für den Einsatz digitaler Medien sowie nach Forschungslücken, die die Wissenschaftlerinnen für ihren Bildungssektor identifizieren konnten.
Frau Kathmann, in Ihrem Critical Review haben Sie die Gelingensbedingungen für die Nutzung digitaler Medien von Lehramtsstudierenden in der Schulpraxis untersucht. Was motiviert Lehramtsstudierende digitale Medien im Unterricht einzusetzen und gibt es individuelle Voraussetzungen, die dieses befördern?
Jessica Kathmann: In unserem Review konnten wir herausarbeiten, dass angehende Lehrkräfte digitale Medien im Unterricht vor allem dann einsetzen, wenn sie bereits eine positive Einstellung zu diesen Medien mitbringen, schülerorientiert bzw. konstruktivistisch denken und über bestimmte Kompetenzen verfügen. Diese Kompetenzen lassen sich gut im TPACK-Modell von Mishra und Koehler (2006) abbilden, das technologisches, pädagogisches und fachliches Wissen und deren Schnittstellen thematisiert. Studierende, die hier gutes und verknüpftes Wissen aufweisen, werden digitale Medien mit größerer Wahrscheinlichkeit didaktisch sinnvoll in den Unterricht einbinden. Beispielsweise hatten wir in unseren 38 analysierten Studien mehrere Studien, in denen Studierende das Programm GeoGebra im Mathematikunterricht einsetzten. Es reicht nicht aus, dass Studierende wissen, wie sie GeoGebra technisch bedienen können. Sie müssen es vielmehr didaktisch in den Unterricht einbetten können – also beispielsweise wissen, wie sie eine Gruppenarbeitsphase damit gestalten können – und sie benötigen gleichzeitig mathematisches Fachwissen, um die Darstellungen in GeoGebra zu verstehen.
Die Rahmenbedingungen an Hochschulen sind ja sicherlich höchst unterschiedlich. Welchen Einfluss haben diese auf das Gelingen von Digitalisierung in der Ausbildung der angehenden Lehrkräfte?
Jessica Kathmann: Einen großen! Studien zeigen, dass die Häufigkeit der Mediennutzung in der Schulpraxis signifikant mit dem im Studium Gelernten zusammenhängt: Wer im Studium viele solcher Kompetenzen erworben hat, nutzt digitale Medien im Praktikum häufiger. Allerdings scheint die Qualität der entsprechenden Seminare eine große Rolle zu spielen. Praxisnahe Seminare, die Didaktik und Mediendidaktik sinnvoll miteinander verknüpfen, sind hier ebenso wichtig wie Lehrende, die als Vorbilder im Medieneinsatz fungieren.
Eine Studie, in der mehrere Kohorten von Studierenden über fünf Jahre untersucht wurden, zeigte beispielsweise, dass Maßnahmen in der Hochschulentwicklung (z. B. Ausstattung der Studierenden mit mobilen Endgeräten, Austauschmöglichkeiten und Weiterbildungsangebote) dazu geführt haben, dass digitale Medien über die Jahre hinweg von der jeweiligen Studierendenkohorte nicht nur häufiger genutzt, sondern auch in didaktisch komplexeren Settings in der Lehre eingesetzt wurden.
Darüber hinaus ist es wichtig, dass Studierende z. B. die Möglichkeit bekommen, eine Unterrichtsstunde mit Mitstudierenden zu erproben (Microteaching) und sich mit ihren Lehrenden über Praktikumssituationen auszutauschen. Eine gute Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis können Seminare bieten, in denen theoretisch erlernte Inhalte direkt in der Schulpraxis eingesetzt werden. Beispielsweise haben wir eine Studie in unserem Critical Review, in der Lehramtsstudierende vor dem konkreten Einsatz von iPads und Apps im Musikunterricht zwei Wochen vorab sich mit Theorie und der Erprobung der Apps beschäftigten.
Schauen wir auf die Schulpraxis. Welche Hindernisse stehen der Nutzung von digitalen Medien im Unterricht im Weg und wie könnten Verbesserungen aussehen?
Jessica Kathmann: Studierende, die nicht über die oben genannten Eigenschaften wie Vorerfahrungen, positive Einstellungen zu digitalen Medien und entsprechende Nutzungskompetenzen verfügen, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mediengestützt unterrichten. Um hier Veränderung zu schaffen, sollte der Einsatz digitaler Medien im Unterricht bestenfalls curricular im Lehramtsstudium verankert werden. Didaktisch gut konzipierte Seminare sollten die Studierenden konkret und über die gesamte Ausbildung hinweg auf die Nutzung digitaler Medien im Unterricht vorbereiten. Dabei sollte nicht nur theoretisches Wissen zu pädagogischen, technologischen und inhaltlichen Aspekten (und deren Schnittfeldern) vermittelt werden, sondern es sollten möglichst viele Gelegenheiten zur Erprobung in verschiedenen Unterrichtsszenarien geschaffen werden. Ein wichtiger Faktor ist außerdem die Zeit, die für das Unterrichten zur Verfügung steht.
Sind die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, steht allerdings oft die Infrastruktur an der Praktikumsschule im Weg: Häufig steht benötigte Soft- oder Hardware nicht zur Verfügung, weil sie entweder defekt ist oder gar nicht erst angeschafft wurde. Wie solche Probleme gelöst werden könnten, war nicht Gegenstand der Studien in unserem Review. Aus persönlicher Perspektive denke ich, das z. B. Medienverantwortliche mit Zeit (!) und Kompetenz Abhilfe schaffen könnten, die sich beispielsweise um die Anschaffung von Hardware kümmern. Im besten Fall sollte es natürlich schulübergreifend bereits vorbereitetes Material im Sinne von Open Educational Resources geben, auf das zurückgegriffen werden kann, damit nicht jede*r das Rad neu erfindet.
Nicht zuletzt kann der Einsatz digitaler Medien im Schulpraktikum nach unserer Recherche aber auch daran scheitern, dass die Mentor*innen vor Ort keine Erfahrung mit digitalen Medien im Unterricht haben oder ihren Einsatz sogar ablehnen. Hier brauchen wir also entsprechende Fortbildungen für Mentor*innen.
Frau Heinemann, für den Bildungssektor Schule haben Sie einen ganz anderen Blick auf das Thema gewählt. Sie betrachten im Review mit Ihren Mitautor*innen Strategien und Maßnahmen für die Entwicklung überschulischer Curricula im internationalen Kontext. Vor welche Herausforderungen stellt der digitale Wandel die Akteur*innen bei der Ausgestaltung der Curricula?
Anna Heinemann: In unser Critical Review haben wir Forschungsarbeiten aufgenommen, die Curricula mit einem Fokus auf die Digitalisierung, auf regionaler sowie nationaler politischer Ebene und deren Auswirkungen analysierten. Dabei konnten wir verschiedene strategische Begründungsmuster für diese Curricula sowie wiederkehrende operationale Maßnahmen identifizieren. Die Begründungsmuster legen also dar, wieso Gesellschaften den digitalen Wandel als wichtigen Aspekt der curricularen Entwicklung im Schulsystem eines Landes oder einer Region verstehen. Anders gesagt ist also zunächst die Herausforderung für politische Akteure, Veränderungen im Zuge der Digitalisierung für die jeweilige Gesellschaft zu identifizieren, Zukunftsszenarien zu entwerfen und daraus Anforderungen an das Bildungssystem abzuleiten. Sobald dieser Schritt gemacht wurde, kann ein Land dann also sein Curriculum dahingehend weiterentwickeln oder anpassen. Auf dieser operationalen Ebene bedeutet der digitale Wandel eine Veränderung auf allen Ebenen des Bildungssystems, die sich nicht nur in der Ausstattung von Schulen zeigen sollte. Neben der Entwicklung der Infrastruktur konnten wir in den gesichteten Forschungsarbeiten auch sehen, dass z.B. der technische Support in den Schulen, die Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern hinsichtlich ihrer Medienkompetenz sowie Partnerschaften und Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen im Schulsektor eine wichtige Rolle spielen. Man sieht also die Herausforderung, dass es nicht ausreichend ist, an vereinzelten Stellen den digitalen Wandel zu bearbeiten, vielmehr stellt er eine gesamtheitliche Herausforderung des Bildungssystems dar.
Wir können ebenso festhalten, dass der digitale Wandel die politischen Akteure dazu zwingt Curricula weiterzuentwickeln, Bildung neu zu denken und digitale Medien in Curricula zu integrieren, da den Ländern sonst droht gesellschaftlich und/oder ökonomisch abgehängt zu werden. In unserem Review wurde deutlich, dass die Motivation zur Veränderung der Curricula hinsichtlich des digitalen Wandels oftmals im ökonomischen Wachstum, der Förderung von Bildungsgerechtigkeit sowie dem Übergang in die Informationsgesellschaft besteht.
Sie haben im Rahmen ihrer Forschungssynthese Curricula aus 49 Ländern betrachtet und verglichen. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Anna Heinemann: In unserem Review wurde z.B. an mehreren Stellen deutlich, dass verschiedene Länder und Regionen die Digitalisierung anders bewerten und somit auch andere Schlussfolgerungen für die Anforderungen an das jeweilige Bildungssystem herausstellen. Dementsprechend konnten wir zwei Kerntendenzen beobachten: Zum einen die Entwicklung eines eigens entwickelten neuen ICT-Fachs sowie die Entwicklung allgemeingültiger curricularer Zielvorstellungen hinsichtlich des digitalen Wandels. Ersteres konnten wir in den gesichteten Forschungsarbeiten tendenziell eher dem Computational Thinking und der Informatik zuordnen während die Überlegungen in den allgemeingültigen curricularen Vorschlägen fächerübergreifend formuliert wurden und weniger an technologische Kompetenzen geknüpft waren. Dennoch wurden in beiden Ansätzen das gesellschaftliche Bedürfnis nach verbesserten Medienkompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Sinne eines reflektierten und kompetenten Verhaltens im digitalen Kontext unterstrichen.
Des Weiteren ist uns im Critical Review aufgefallen, dass Schlagwörter wie 21st Century Skills oder Digital und Global Citizenship sowie Media Literacy nur vereinzelt konkret aufgegriffen werden, obwohl die Inhalte dieser theoretischen Hintergründe oder Teile davon in allen Forschungsarbeiten, die ins Review einflossen, eine Rolle spielten. An dieser Stelle wurde deutlich, dass im Rahmen der Curriculumsentwicklung auf politischer Ebene weiterhin Unklarheiten bezüglich der anzustrebenden Kompetenzen in einer Gesellschaft im digitalen Wandel bestehen.
Auf methodischer Ebene überraschte uns, dass wir lediglich eine Studie aus Deutschland mit in das Review aufnehmen konnten, während wir z. B. einen vergleichsweise guten Überblick über die curriculare Entwicklung asiatischer Länder erhalten konnten.
Welche Maßnahmen oder gar Reformen sollten für ein besseres Gelingen des Digitalisierungsprozesses an den Schulen unbedingt angegangen werden?
Anna Heinemann: In unserem Critical Review haben wir uns an einem wissenschaftlichen Modell orientiert, das sowohl strategische Begründungsmuster als auch Maßnahmen zur Curriculumsentwicklung im Kontext des digitalen Wandels definiert und konnten diese auch in den gesichteten Forschungsarbeiten wiederfinden. Auf der strategischen Ebene werden demnach eher Ziele und Visionen einer zukünftigen Gesellschaft sowie Motivationen für Veränderungen genannt. Die Maßnahmen, die dann, meistens im nächsten Schritt, von der Politik gesetzt werden, sind eher auf einer operationalen Ebene anzusiedeln. Hier geht es also eher darum, was man konkret an den Schulen braucht, um die strategischen Ziele zu erreichen. Wie schon eingangs erwähnt, konnten wir in verschiedenen Forschungsarbeiten in unserem Review sehen, dass die Ausstattung von Schulen allein nicht ausreicht um strategische Ziele, wie das ökonomische Wachstum oder den Übergang in die Informationsgesellschaft, zu erreichen. Vielmehr gilt es, einen holistischen Ansatz zu finden, der die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems miteinander vereint und dem es gelingt eine strukturelle Veränderung zu schaffen, die der digitale Wandel in seiner Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens auch erfordert. Weiterhin gilt es auch, die Teilaspekte stärker zu durchdenken. Nehmen wir als Beispiel die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften hinsichtlich ihrer Medienkompetenzen. Hierzu konnten wir im Review feststellen, dass es nicht unbedingt ausreichend ist, die alleinige Kompetenzentwicklung von Lehrkräften zu fokussieren. Vielmehr muss es auch gelingen, die Lehrkräfte hinsichtlich ihrer Einstellung zum digitalen Wandel und der Curriculumsziele zu erreichen, da sie eine Gatekeeperfunktion für diese Ziele erfüllen und am Ende die Menschen sind, die den Wandel an die Schülerinnen und Schüler herantragen. Eine anderes Beispiel betrifft die technische Infrastruktur: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler brauchen ein nachhaltiges und konstantes Supportangebot um die Ausstattung auch adäquat nutzen zu können. Zusätzlich sollte ein solches Supportsystem niederschwellig und auf kurzen Wegen zu erreichen sein um die Nutzung zu unterstützen. Auf der Ebene der Lerninhalte gilt es, die geforderten Kompetenzen eines mündigen Individuums in der Informationsgesellschaft sowohl in Lehr- als auch in Bewertungsmethoden aufzunehmen. An dieser Stelle werden in den Forschungsarbeiten im Review vermehrt Kompetenzen, wie die Auseinandersetzung mit Algorithmen, der Umgang mit Information, Kommunikation und Kooperation, der reflektierte und verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Medien sowie Programmierkenntnisse und Problemlösekompetenzen genannt.
Es gibt also noch viele Stränge, die miteinander in Verbindung gebracht werden könnten, um die curriculare Entwicklung im digitalen Wandel zu unterstützen. Das Critical Review bietet zunächst die Möglichkeit, wichtige Stimmen aus verschiedenen Fachdisziplinen und Ländern miteinander zu verbinden und somit barrierefreier für andere Forschende sowie Praktikerinnen und Praktiker zugänglich zu machen
Frau Nieding, schauen wir auf Ihren Bildungssektor, der Bildung in Kindheit, Jugend und Familie. In Ihrem Critical Review haben Sie sich mit dem non-formalen Kontext der Kinder- und Jugendbildung beschäftigt. Hier gibt es ja kein festgelegtes Curriculum, wie in der Schule und es gilt die freiwillige Teilnahme. Wie können hier pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche dabei unterstützen einen kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu erlernen und wie können Fachkräfte ihre eigenen Kompetenzen stärken?
Iris Nieding: Es gibt zwar kein Curriculum, Akteure aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe orientieren sich aber an den Bildungsgrundsätzen und Leitlinien, die die einzelnen Bundesländer in ihren Bildungsplänen verankert haben. Eine Studie im Review (Lienau & van Roessel, 2019) untersuchte die Bildungspläne mit Blick auf die Erwähnung der inhaltlichen Ausgestaltung im Kontext der frühen Kindheit entlang der bekannten Medienkompetenz-Dimensionen von Baacke (2007). Die Bildungspläne bilden die gesamte Spannbreite von auslassen bis umfassend behandelt ab und gehen nicht einheitlich mit der Thematik um. Darin liegen somit auch die große Spannbreite und Unterschiedlichkeit des Medieneinsatzes in der Praxis begründet. Da es kein Curriculum oder feste, einheitliche Zielvorgaben gibt, erarbeitet sich jede Organisation (z. B. jeder Kita-Träger) eigene Leitlinien für den Umgang mit und Einsatz von digitalen Medien. Die tatsächliche Ausgestaltung in der Praxis ist dann aber abhängig von den Fachkräften selbst, ihren Kompetenzen, inhaltlichen Schwerpunkten, Interessen und von den strukturellen Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet sind. Wenig Zeit durch Personalmangel und geringe Ressourcen wie Ausstattung sind dabei keine förderlichen Faktoren. Oftmals werden diese Einflüsse als Gründe benannt, warum medienpädagogische Angebote hinter anderen (Bildungs-)aufgaben zurückgestellt werden. Insgesamt 23 Studien aus dem Review beschäftigen sich damit, wie digitale Medien mit Kindern und Jugendlichen förderlich eingesetzt werden können und den Kompetenzerwerb spielerisch unterstützen können. Die Studien zeigen auf, dass Medienbildung nicht hintenanstehen muss, sondern als Querschnittsaufgabe auch im Zuge der Förderung anderen Bildungsbereiche (z. B. MINT-Fähigkeiten oder Spracherwerb) entstehen kann.
Wie in anderen Bildungsbereichen kann auch für die Arbeit in non-formalen Bildungskontexten das TPACK-Modell als Orientierungsrahmen angelegt werden. Eine Studie aus dem Review adaptiert dieses Modell und entwickelt daraus ein Modell für den Einsatz digitaler Medien in spielerischen Lernumgebungen (Digital Play Model von Disney et al. 2019). So wie sich das technologisch, pädagogische Kontextwissen aus verschiedenen Kompetenzen zusammensetzt, ist auch die digitale spielerische Lernumgebung ein Resultat aus verschiedenen Schnittstellen des pädagogischen, fachspezifischen Wissens: Kenntnisse über frühkindliche Lernfähigkeiten, spielebasierte Pädagogik und Entwicklungs- bzw. Altersangemessenheit des digitalen Mediums. Solche Modelle sind in der pädagogischen Praxis hilfreiche Instrumente zur Reflexion eines gezielten Medieneinsatzes.
Der Umgang mit digitalen Medien wird ja schon der frühen Kindheit gelernt. Was gilt es bei der Auswahl von Learning Apps für diese Zielgruppe zu beachten?
Iris Nieding: Einige internationale Studien aus dem Review haben Merkmale, Aufbau und die (pädagogische) Qualität von Lern-Apps und Lernspielen untersucht und hinsichtlich verschiedener Kriterien bewertet (siehe z.B. S. 61 im Review). Ein besonders wichtiges Merkmal dabei ist, dass Apps, die zur Lernförderung eingesetzt werden sollen, auch verschiedene Bereiche ansprechen sollten: die Gestaltung sollte zur Interaktion anregen, Inhalte müssen altersspezifisch sein und ablenkende sowie störende Elemente wie Werbung, Videoeinspieler, viele Soundeffekte, sollten nicht enthalten sein. Die beste Wirkung im pädagogischen Umfeld erzielen Lernspiele und Apps laut der Studien, wenn virtuelle Erfahrungen direkt mit realen Lernerfahrungen verknüpft werden.
Anwender*innen sollten sich bei der Auswahl der Apps an Empfehlungen von seriösen Institutionen orientieren und weniger an der Bewertung im App-Store, diese sei nämlich eher trügerisch. Auch eine Bezahlschranke ist nicht automatisch ein Garant für ein bessere Qualität – interessanterweise konnte festgestellt werden, dass in den kostenfreien Apps und Spielen zwar häufiger Werbung eingeblendet wird, die kostenpflichtigen Apps aber nicht alle hochwertiger sind als die kostenfreien. Einrichtungen und Fachkräfte sollten über ein Bewertungsraster oder einen Kriterienkatalog verfügen, mit denen sie Inhalte und Aufbau der Spiele vor ihrem Einsatz reflektiert bewerten können. Auch für Eltern sind solche Informationen, z. B. in Form von Handreichungen, sinnvoll, um die Nutzung im häuslichen Umfeld zu lenken. Nahezu im Einklang formulieren die untersuchten Studien abschließend die Empfehlung, dass Lernspiele und Lernapps von Entwickler*innen gemeinsam mit Experten und pädagogischen Fachkräften erarbeitet werden sollten, um die Qualität der Lerninhalte sowie auch die Altersangemessenheit zu sichern.
Immer wieder werden Befürchtungen geäußert, dass digitale Medien negative Auswirkungen auf Sozialkompetenzen von Kindern und Jugendlichen haben. Was sagt die Studienlage dazu?
Iris Nieding: Es gibt Studien, die untersucht haben, wie Kinder Tablets und digitale Spiele z. B im Kita-Alltag nutzen. Sie durchlaufen dabei entwicklungspsychologisch bestimmte Experimentier- und Lernphasen. Zunächst machen sie sich eine ganze Zeit lang in der Phase des explorativen Spiels mit den Funktionsweisen der Technik vertraut. Danach erst treten sie in die innovative Spielphase ein und binden digitale Medien ganz natürlich als eine weitere Dimension in ihr Spiel ein – auch gemeinsam mit anderen Kindern (z. B. durch Fotos machen oder das Aufnehmen kurzer Videosequenzen). Es konnte beobachtet werden, wie sich die Kinder auch gegenseitig in der Erkundungsphase unterstützt haben ohne eine Unterstützung durch die Fachkräfte zu benötigen. Durch den Wechsel zwischen Erkundungs- und Innovationsphase entwickeln Kinder automatisch ihre technischen Fähigkeiten weiter und sie zeigen kreative Ansätze, wie ein Tablet in ihr Spiel eingesetzt werden kann. Auch hier muss aber betont werden, dass sich Potenziale zur Förderung von Sozialkompetenzen nur mit durchdachten Design-Prinzipien entfalten lassen.
Das zeigt sich bspw. auch beim Thema Leseförderung durch digitale Märchenbücher. Studien aus den USA kommen zu dem interessanten Ergebnis, dass das Medium an sich nicht unbedingt die größte Rolle spielt. Entscheidender seien vielmehr die dargestellten Inhalte, Charaktere und die Verständlichkeit der dargestellten Geschichte, die das Interesse der Kinder am Lesen von digitalen oder analogen Büchern fördern. Werden diese beglietet durch Fachkräfte eingesetzt, können sich vergleichbare Lernerfolge einstellen. Digitale Bücher oder Spiele zur Lese- oder Wortschatzförderung bergen allerdings noch z.T. ungenutzte kompensatorische Effekte für Kinder, die mit Hilfe dieser Programme auch ohne die Unterstützung von Erwachsenen oder Fachkräften ihren Wortschatz spielerisch verbessern können. Digitale Bücher oder Lernspiele ziehen das Interesse der Kinder allein aufgrund ihrer Beschaffenheit häufiger an und können das Interesse auch länger bündeln – aus diesem Grund sollten besonders die Inhalte und der Aufbau genauer betrachtet werden. Als besonders förderlich wird in den Studien letztendlich eine vielfältige Lernumgebung, bestehend aus verschiedenen digitalen und analogen, qualitativ hochwertigen und durchdachten Medienangeboten gesehen.
Eine letzte Frage an Sie drei: Ziel Ihrer Forschungssynthesen ist ja aktuelles Forschungswissen zu synthetisieren und zu strukturieren. Dabei haben Sie auch einige offene Forschungsfragen identifiziert. Welche weiteren Forschungsbedarfe sehen Sie in Ihrem jeweiligen Bildungssektor für das von Ihnen bearbeitete Themenfeld?
Iris Nieding: Viele Studien aus dem Critical Review – sowohl deutschsprachige als auch internationale Studien – weisen einen experimentellen Charakter auf mit kleinen Untersuchungsgruppen über einen kurzen Zeitraum. Aus den Ergebnissen lassen sich nur kurzzeitig gültige Aussagen ableiten, die in größeren Studienaufbauten überprüft werden müssten. Aussagen und Erkenntnisse über langfristige Auswirkungen des Einsatzes digitaler Medien mit und von Kindern und Jugendlichen lassen sich auf dieser Basis noch nicht treffen. Durch die Analyse zahlreicher internationaler Studien ist darüber hinaus die mangelnde Studienlage im deutschsprachigen Raum auffällig, die sich zumeist verstärkt auf der konzeptionellen Ebene bewegt. Von Interesse wären aus diesem Grund größer angelegte Studiendesigns, die (ob qualitativ oder quantitativ) über den Einsatz hinaus den Nutzen von digitalen Medien für die Lernförderung eruieren und dabei besonders die Altersdifferenzen von Kindern und ihre entwicklungspsychologischen Unterschiede in den Auswertungen berücksichtigen.
Anna Heinemann: Wir haben in unserem Critical Review zunächst Forschungsarbeiten integriert, die einen fächerübergreifenden Ansatz oder den Ansatz eines eigenen ICT-Fachs fokussierten, um Kompetenzen im digitalen Raum zu fördern. Interessant wäre weiterhin, diese Entwicklungen auf der Ebene einzelner Fächer zu betrachten, um genau zu analysieren, wie verschiedene Disziplinen planen, den digitalen Wandel in das Fach miteinzubeziehen. Hier könnte man eventuell noch konkretere Überlegungen und Maßnahmen, z. B. auf Ebene der Entwicklung von Lerninhalten identifizieren. Forschungsarbeiten, die die Perspektive von Schülerinnen und Schülern auf die Curricula und deren Ziele fokussieren, könnten eine weitere Quelle sein, um die politischen Initiativen im Bereich der Curriculumsentwicklung differenziert zu beleuchten.
Jessica Kathmann: Die meisten der Studien, die wir in unserem Critical Review zum Einsatz von digitalen Medien in der Schulpraxis betrachtet haben, haben nur die angehenden Lehrkräfte befragt. Vielversprechend erscheinen hier multiperspektivische Ansätze, bei denen beispielsweise neben den Studierenden auch die Mentor*innen befragt werden, um ein umfassenderes Verständnis des komplexen Zusammenspiels von persönlichen, praktikumsschulischen und hochschulischen Bedingungen zu erlangen. Ein Mehrwert für die Forschung ergäbe sich zudem durch die Kombination verschiedener Erhebungsmethoden (z. B. Fragebogen und Unterrichtsbeobachtung), um einen vertieften Einblick in die Interaktionen während des Praktikums zu erhalten. Darüber hinaus sollten neben Fragebögen und Unterrichtsbeobachtungen weitere Erhebungsinstrumente eingesetzt werden, wie z. B. die Auswertung von Unterrichtsentwürfen. Ein solches Vorgehen erhöht u. a. die Objektivität und trägt zu qualitativ hochwertiger Forschung bei.
Vielen Dank für den Ausblick und die Einblicke in Ihre Forschung!
Links:
3. Reviewband des Metavorhabens Digi-EBF: https://www.waxmann.com/waxmann-buecher/?no_cache=1&tx_p2waxmann_pi2%5Bbuch%5D=BUC128338&tx_p2waxmann_pi2%5Baction%5D=show&tx_p2waxmann_pi2%5Bcontroller%5D=Buch&cHash=86ab781addedf13b4baf8c0437f84ab1
Jessica Kathmann: https://www.iwm-tuebingen.de/www/de/personen/ma.html?uid=jkathmann
Anna Heinemann: https://learninglab.uni-due.de/users/anna-heinemann
Iris Nieding: https://www.uni-due.de/iaq/personal/nieding.php
Digi-EBF Homepage: https://digi-ebf.de/
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Michaela Achenbach für Deutscher Bildungsserver.
In Zukunft werden Lern-Apps wahrscheinlich durch Künstliche Intelligenz entwickelt, die sowohl technische als auch pädagogische Kriterien berücksichtigt. Dies wird jedoch die Herausforderungen der Finanzierung, wie die Werbefreiheit oder Bezahlmodelle, nicht vollständig lösen. Hier können Förderprojekte durch den Bund oder die Länder eine wichtige Rolle spielen, indem sie die Entwicklung und Bereitstellung kostenfreier Apps unterstützen. Dabei ist es essenziell, auch an die kontinuierliche Betreuung und Aktualisierung der Apps nach der Projektphase zu denken, da dies oft ein vernachlässigtes Problem ist.