„Eine Verteufelung der Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter ist der falsche Ansatz“

Digitale Medien ermöglichen kreatives und kollaboratives Arbeiten

In Folge vier unserer Reihe zur Förderung von Medienkompetenz erklärt der stellvertretende Schulleiter einer freien Schule in Berlin, wie Medienbildung dort praktiziert wird.

Porträtfoto von Michael Hog, stellvertretender geschäftsführender Direktor der Freien Schule Anne Sophie

Dr. Michael Hog, stellvertretender geschäftsführender Direktor der Freien Schule Anne-Sophie

INTERVIEW mit Dr. Michael Hog von der „Freien Schule Anne Sophie“. In dieser Berliner Schule kommen bereits ab der 1. Klasse digitale Medien zum Einsatz. Mit dem stellvertretenden geschäftsführenden Schulleiter sprechen wir über das Medienbildungskonzept der Schule und die Erfahrungen, die die Lehrkräfte und die Schüler*innen in den letzten Jahren damit gemacht haben.

Herr Dr. Hog, welche Medienkompetenzen vermitteln Sie Ihren Schülerinnen und Schülern?

Eine wesentliche Aufgabe von Schule ist es, Kinder und Jugendliche angemessen auf die Zukunft, aber ebenso auf die Bewältigung ihres aktuellen Alltags vorzubereiten. Medienbildung ist dabei eine fächerintegrative Aufgabe, das heißt, alle Fächer schulen in ihrem Unterricht auch die Medienkompetenz. Neben Skills wie Recherche- und Präsentationskompetenzen, die ja für die allermeisten Fächer relevant sind, hat jedes Fach auch eigene mediale Schwerpunkte, zum Beispiel das Analysieren und Produzieren von Filmen im Deutschunterricht. Hinzu kommen informatische Spezialthemen wie klassischerweise das Programmieren oder Robotik und 3D-Drucker. Um auch Kompetenzen umfassend fördern zu können, die die Kenntnisse vieler Fach-Lehrkräfte übersteigen, haben wir – was in der Berliner Stundentafel nicht vorgesehen ist – ICT-Unterricht (ICT steht für „Information and Communications Technologies“) von der 1. bis zur 10. Klasse eingeführt. Und natürlich ist uns auch ein kritischer und verantwortungsvoller Umgang mit den Medien, insbesondere den sozialen Medien, wichtig. Deshalb haben wir das Fach „Medienkunde“ und beteiligen uns am Projekt „Digitale Helden“, bei dem Schülerinnen und Schüler zu Medienmentoren ausgebildet werden und ihr Wissen an jüngere Kinder weitergeben. Angesichts der Dynamik technischer Innovationen und der immer kürzer werdenden Halbwertszeit von Informationen gewinnt prozessorientiertes Lernen gegenüber reproduktivem Wissenserwerb zunehmend an Bedeutung: Dabei kommt dem kreativen und kollaborativen Arbeiten eine zentrale Bedeutung zu, Schüler*innen werden so von Konsumenten zu Produzenten und erwerben Kompetenzen, die für ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben und Arbeiten im 21. Jahrhundert erforderlich sind.

Weiterführende Infos zum Thema Medienkompetenz beim Deutschen Bildungsserver

Wie sieht die Medienbildung bei den Erst- und Zweitklässlern konkret aus?

In den ersten Klassen steht auch bei uns die Vermittlung der Grundfertigkeiten Schreiben, Lesen und Rechnen im Vordergrund, sie ist weitgehend an die so genannten traditionellen Medien wie Buch und Stift gebunden. Darüber hinaus wird sukzessive der Umgang mit der elektronischen Technik als vierte Kulturtechnik eingeführt. Dabei geht es in den unteren Klassen vor allem um spielerisches und kreatives Entdecken und Ausprobieren wie beispielsweise bei der Produktion von Stop-Motion-Filmen. Darüber hinaus fördern wir ein Grundverständnis für algorithmische Prozesse. Was kompliziert klingt, ist im Grunde nichts anderes als die Einsicht, dass Computerprogramme im Kern aus einer Abfolge von einzelnen Befehlsschritten bestehen. Dieses „Computational Thinking“ kann zum Beispiel durch Mini-Roboter wie den Bienenroboter „BeeBot“ angeregt werden, den die Kinder durch einzelne Richtungsbefehle steuern.

Für wie wichtig halten Sie die Medienbildung angesichts der Tatsache, dass die Lese- und Rechenkompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland stetig sinken?  

Auch wenn einige Studien nahelegen, dass der Medienkonsum einen nachteiligen Einfluss auf die Lese- und Rechenkompetenzen haben kann, ist eine Verteufelung der Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter meines Erachtens der falsche Ansatz. Sicherlich sollten digitale Medien gerade in der ersten Phase des Schriftspracherwerbs nur dosiert eingesetzt werden. Andererseits gibt es hier auch viele Potenziale, die bisher noch zu wenig genutzt werden. Vor allem, wenn es um das Erlernen bestimmter Routinen geht, wie richtiges Rechtschreiben, flüssiges Lesen, die Grundrechenarten und das Lernen von Vokabeln in Fremdsprachen. Hier können so genannte adaptive Systeme helfen. An solchen intelligenten Tutorensystemen wird bereits seit mehreren Jahrzehnten geforscht, allerdings bisher nur mit bescheidenem Erfolg in der Praxis. Mit den enormen Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz scheinen diese Systeme nun aber tatsächlich das einlösen zu können, was sie seit langem versprechen: Übungen und Aufgaben, die auf den individuellen Leistungsstand jedes einzelnen Kindes zugeschnitten sind und kontinuierlich angepasst werden, sofortige Rückmeldung und gezielte Hilfestellung.

Mit KI-basierten, adaptiven Lernsystemen können Aufgaben an den individuellen Kenntnisstand des Kindes angepasst werden.

An der Freien Schule Anne-Sophie setzen wir seit einigen Jahren das Tool „bettermarks“ ein, das ein adaptives System im Bereich Mathematik bietet. Wie andere Länder und Tools wie beispielsweise „area9“ zeigen, scheint dieser Ansatz zunehmend auch im Bereich des Lesens und Rechtschreibens lernförderlich zu sein.

An der Freien Schule Anne-Sophie arbeiten Sie mit offenen Lernräumen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Bei uns bilden die Klassenräume und die angrenzenden Freiflächen in Form von Lernateliers eine Einheit, sodass jederzeit eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeits- und Sozialformen möglich ist. Die offenen Lernateliers sind so gestaltet, dass sie Gruppenarbeit ermöglichen, aber auch Rückzugsmöglichkeiten bieten. Jeden Tag gibt es im Stundenplan feste Zeiten, in denen die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden können, mit wem sie woran und wo arbeiten möchten. Zudem fördern wir fächerübergreifende Projekte, die die Schüler*innen in Teams bearbeiten, wofür sich die offenen Lernateliers ebenfalls sehr gut eignen. Die offenen Räume bieten viel mehr Entfaltungsmöglichkeiten und fördern den Austausch sowie gegenseitige Unterstützung, auch klassenübergreifend.

Wie geht Ihre Schule mit ChatGPT um und wie wird es derzeit in Ihrem Unterricht in den höheren Klassen integriert?

ChatGPT kann als individueller Assistent durchaus sinnvoll eingesetzt werden, etwa um bei der Entwicklung von Ideen, bei der Formulierung von schematischen Texten und bei kleineren Übungen, etwa in der Fremdsprache, zu helfen. Der Chatbot hat jedoch klare Grenzen und erfindet oft nicht nur Fakten und Quellen, sondern ist auch ziemlich unkreativ und schablonenhaft. Daher ist er zum Beispiel für das Schreiben eines Essays nur eingeschränkt geeignet. Es ist wichtig, dies den Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen.

„Ein striktes Verbot hilft hier nicht weiter.“

Vielmehr geht es darum, das Tool gemeinsam auszuprobieren und die Ergebnisse zu reflektieren. So kann ChatGPT auch Teil der Aufgabenstellung sein, indem man ChatGPT etwa eine Interpretation zu einem Gedicht schreiben und die Schülerinnen und Schüler dann die Interpretation der künstlichen Intelligenz bewerten lässt. Spannend wird es im Bereich der kreativen Produktion und in Kombination mit anderen KI-Tools: Meine Schüler*innen sollten zum Beispiel eine fiktive Nachrichtensendung aus dem Jahr 2050 erstellen, wobei sie Avatare als Nachrichtensprecher einsetzen und Fotos verwenden sollten, die von einem KI-Bildgenerator erstellt wurden. Dabei beschäftigten sie sich auch mit dem Phänomen, dass Fake News und Deepfakes auch für Laien immer einfacher zu erstellen sind und in Zukunft noch weiter zunehmen werden.

Welche Erfahrungen aus den letzten Jahren möchten Sie gerne an andere Schulleitungen und Lehrkräfte weitergeben?

Man sollte mit kleinen Schritten beginnen und das Kollegium nicht überfordern. Besonders produktiv sind individuelle Angebote. Mini-Workshops und Mikro-Fortbildungen, die die Lehrkräfte je nach Interesse und Bedarf freiwillig besuchen können, sind viel effektiver als große Studientage, an denen sich alle Kolleg*innen mit den gleichen Themen und Tools beschäftigen müssen, die für den eigenen Unterricht möglicherweise aktuell überhaupt keine Relevanz haben.

„Wichtig ist eine positive Fehlerkultur und die Haltung, dass nicht alles auf Anhieb perfekt funktionieren muss.“

Der Einsatz digitaler Medien erfordert anfangs oft mehr Arbeit, aber mit der Zeit stellen sich schnell Entlastungen und Lernfortschritte ein. Abschließend kann ich dazu raten, Kinder und Jugendliche so früh und so oft wie möglich in die Planung und Umsetzung einzubeziehen. Sie sind häufig die Experten im Digitalbereich. Lehrkräfte sollten dies nicht als Bedrohung ihres Wissensmonopols sehen, sondern als Bereicherung. In diesem Sinne wird die Schule zu einem Ort, an dem alle lernen, Schüler wie Lehrer.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Hog!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Dr. Caroline Hartmann für Deutscher Bildungsserver.

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