Was Systematic Reviews für Bildungsforschung und Bildungspraxis leisten
Systematic Reviews (1)
FRAGEN AN Michael Kerres. Er ist Professor für Mediendidaktik und Wissensmanagement an der Universität Duisburg-Essen und Mitherausgeber des mehrteiligen Reviews zur Digitalisierung in der Bildung, mit dem Forschungswissen zu digitaler Bildung synthetisiert und strukturiert wird. Der erste Band, der die Bedeutung des digitalen Wandels für die Aus- und Fortbildung des pädagogischen Personals beleuchtet, ist gerade erschienen. Ein Gespräch über die Relevanz von Reviews für Bildungsforschung und Bildungspraxis.
Herr Kerres, zu Beginn erst mal eine Definitionsfrage: Worin unterscheiden sich Systematic Reviews von Critical Reviews?
Bei Critical Reviews wird wichtige Literatur eines Themenfeldes identifiziert, ihre Qualität eingeordnet und auf Grundlage einer Fragestellung ausgewertet, ein Vorgehen bei dem recht große Freiheitsgrade bestehen. Systematic Reviews unterliegen dagegen einem methodisch recht strikt festgelegten Prozess, der protokollarisch alle Arbeitsschritte festhält, um transparent und nachvollziehbar zu sein. Sie haben den Anspruch, auf der Basis eines Literaturkorpus eigenständige Forschungsergebnisse zu erarbeiten. Beide Review-Arten sind dazu geeignet, zentrale wissenschaftliche Befunde zu erfassen, und Forschungslücken und Trends zu identifizieren.
Warum sind Reviews in der Bildungsforschung wichtig?
In der Bildungsforschung sind Metaanalysen etabliert – vielleicht weniger als in der Medizin, wo sie schon seit Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung bei der Bewertung von Therapien bekommen haben. Letztlich sind Metaanalysen in der Regel um die Abschätzung des einzelnen Haupteffekts zentriert, etwa wenn es um die Wirksamkeit eines Verfahrens geht. Gerade für die Gestaltung von Bildungs- und Lernangeboten erscheint das aber alleine nicht zielführend, und vor allem: Sie verschenken eine Fülle an Informationen, die in den ausgewerteten Forschungsbefunden ja vielfach enthalten sind!
„Die Arbeit von Hattie, in der er Metaanalysen ausgewertet und zusammengeführt hat, war für die Bildungsforschung sehr einflussreich.“
Gerade in der Bildungsforschung interessieren uns Konstellationen und komplexere Bedingungsgefüge: Um diesen Parametern des didaktischen Feldes gerecht zu werden, ist es wichtig zu erfahren, was unter welchen Bedingungen lernförderlich ist und welche Einflussfaktoren und Gestaltungselemente relevant sind. Denn im Gegensatz zur Medizin, in der letztlich im Kern interessiert, ob eine Behandlung wirkt oder nicht, müssen wir – um beispielsweise der Diversität und der Vielfalt der Voraussetzungen und Möglichkeiten in der Bildungsarbeit gerecht zu werden – die Komplexität von Konstellationen in der Bildung im Auge haben. Systematic Reviews, die qualitativ angelegt sind, erweisen sich hier als eine Chance für die Bildungsforschung.
Was sind Systematic Reviews?
Systematic Reviews sind ein eigenständiger Typ empirischer Forschung, deren empirische Basis vorliegende Forschungspublikationen darstellen. Auf Grundlage einer Forschungsfrage wird eine Suchstrategie formuliert, mit der der Bestand an Forschungspublikationen erfasst wird. Dieser Literaturkorpus wird anschließend systematisch ausgewertet.
Das Ziel ist es, einen Überblick über Befunde zur gewählten Fragestellung zu liefern und Forschungsfragen auf der Grundlage vorliegender Publikationen zu beantworten. Im Unterschied zu einem narrativen Review folgt das Systematic Review einem Prozess, der in einem Protokoll alle Arbeitsschritte festhält, um transparent und nachvollziehbar zu sein; dazu gehört die Identifikation der Fragestellung und der Suchbegriffe, die Literatursuche, die Sichtung, Bewertung und Kodierung der Funde und eine Synthese. Das Protokoll, dem das Systematic Review zugrunde liegt, wird in der Regel (im Methodenteil oder Anhang) als Bestandteil der Publikation mit veröffentlicht. Da vorliegende Forschungsliteratur umfassend einbezogen wird, tragen Systematic Reviews dazu bei, wissenschaftliche Befunde für ein Forschungsfeld zu erfassen, Forschungslücken sowie Trends zu identifizieren.
Das aus der Medizin stammende Verfahren wird seit einigen Jahren auch in anderen Disziplinen, wie etwa der Soziologie oder den Bildungswissenschaften angewandt. Systematic Reviews sind nicht lediglich Zusammenfassungen vorliegender Befunde, sondern generieren eigene wissenschaftliche Ergebnisse.
Was ist am Thema Digitalisierung und Bildung so komplex – und was bedeutet das für den Reviewprozess?
Bei der Digitalisierung gibt es eine große Bandbreite an Themen, die für die Bildungsforschung relevant ist. Angefangen bei infrastrukturellen, technologischen Fragen über das didaktische Geschehen im Unterricht und anderen Kontexten, die Interaktion des Lernenden mit einem Lernangebot bis hin zu Fragen der Organisations- und Personalentwicklung; aber auch gesellschaftliche Fragen der Teilhabe und der institutionellen Anlage des Bildungswesens sind hier von Bedeutung. Diese Ebenen sind in ihrem Zusammenwirken angemessen zu erfassen, vor allem, um simplen Annahmen von Ursache und Wirkung entgegenzutreten. Die Mediendidaktik hat dabei eine andere Sicht als beispielsweise die Lernpsychologie: Die betrachtet vielleicht in einem Labor die Wahrnehmungsprozesse beim Lernen mit digitalen Medien. Für die Mediendidaktik sind dagegen die vielen verschiedenen Ebenen zusammenzubringen und zu beschreiben.
Und was erwartet die Politik von einem Review zu diesem Thema?
Wir hören häufig die Frage: „Was sind die Wirkungen des Digitalen auf das Lernen, den Unterricht, die Schule, die Erwachsenenbildung usw.?“ Dabei wird übersehen, dass es nicht die Technik an sich ist, die Wirkung erzeugt, sondern das Handeln der Menschen, die diese digitalen Artefakte nutzen und sie gemäß ihren Vorstellungen und Interessen einsetzen. Deshalb ist es auch wichtig, dieses Wechselspiel auf verschiedenen Ebenen zu betrachten, und unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, diese Zusammenhänge zu durchdringen und nachvollziehbar zu machen.
Wir sind ja noch mittendrin in der Diskussion um die Digitalisierung in der Bildung, und es gibt sehr viele Forschungsprojekte, deren Ergebnisse noch gar nicht vorliegen. Ist die Zeit für ein Review denn schon reif?
Tatsächlich liegen Forschungsergebnisse, die in grundlegenden Fragen vielfach zu immer ähnlichen Ergebnissen kommen, bereits seit einigen Jahrzehnten vor. Insofern erscheint es mir gerade vor diesem Hintergrund wichtig, diese relativ klar erkennbaren Befunde explizit herauszuarbeiten und bekannt zu machen. Grundsätzlich besteht die Herausforderung, dass mit der zunehmenden Menge an Publikationsorganen und Veröffentlichungen die Forschungslage immer schwieriger zu überschauen ist. Insofern sind die verschiedenartigen Formate von Reviews sehr hilfreich und gerade in der Bildungsforschung gewinnen sie immer mehr an Bedeutung. Die Forderung nach Evidenzbasierung, wie in der Medizin üblich, wird auch in der Bildungspraxis immer lauter. Dabei ist zu beachten, dass Systematic Reviews erst einmal einen Erkenntnisgewinn für die Bildungsforschung liefern wollen, sie sind nicht unmittelbar als Handlungsanweisungen für die Praxis angelegt.
Reviews sind also nicht primär für einen Wissenstransfer von der Forschung in die Praxis gedacht?
Systematic Reviews verstehen sich als eigene empirische Forschungsmethodik, die zur wissenschaftlichen Erkenntnisbildung beitragen will. Meines Erachtens können Systematic Reviews zur Evidenzbasierung in der Bildung wesentlich beitragen, aber der Transmissionsprozess zwischen Bildungsforschung und Bildungsarbeit ist komplexer. Solange Systematic Reviews „nur“ als Auswertung und Zusammenfassung vorliegender Forschungsbefunde eingeordnet werden, werden sie innerhalb des Wissenschaftssystems geringgeschätzt: Sie werden nicht als originäre Forschungsarbeiten aufgefasst. Insofern besteht hier ein Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite besteht der Bedarf nach forschungsbasierten Synthesen mit Praxisrelevanz. Auf der anderen Seite besteht das Bemühen, Systematic Reviews als eigenständige Forschungsleistung in der Scientific Community zu verankern.
Reviews in der Bildungsforschung erfahren eine hohe Aufmerksamkeit – gleichermaßen in der Wissenschaft wie auch in der Praxis.
Es ist interessant, dass Reviews sowohl in der Praxis als auch in der Forschung gerne und häufig aufgenommen werden – sie gehören in der Bildungsforschung zu den am meisten zitierten Publikationen und sie befördern Diskussionen in der Bildungspraxis. Aber wie gesagt, wir müssen uns klarmachen, dass diese Übersetzungsprozesse zwischen Bildungsforschung und -praxis nicht trivial sind und dabei auch der Status von unterschiedlich angelegten Reviews weiter zu reflektieren ist.
Im Rahmen des Metavorhabens „Digitalisierung im Bildungsbereich“ erscheint eine mehrteilige Critical Review Reihe „Digitalisierung in der Bildung“, mit der das Forschungswissen zu Fragen der digitalen Bildung synthetisiert und strukturiert wird. Der erste Band ist im September 2020 erschienen.
„Bildung im digitalen Wandel. Die Bedeutung für das pädagogische Personal und für die Aus- und Fortbildung“ hrsg. von Annika Wilmers, Marc Rittberger, Carolin Anda, Carolin Keller, Waxmann 2020, doi.org/10.31244/9783830991991
Die Literaturrecherche für das Review ist übrigens im Forschungsdatenzentrum Bildung einzusehen. DOI: 10.7477/414:1:0
Auch wenn die Übersetzungsprozesse kompliziert sind: Wie könnte ein Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Reviews in die praktische Bildungsarbeit aussehen?
Nimmt man zum Beispiel Fortbildungen für das Lehrpersonal an Schulen, aber auch Angebote in der Erwachsenenbildung in den BIick, kann man den Eindruck erhalten, dass hier der aktuelle „Stand der Forschung“ in vielen Fällen wenig wahrgenommen wird, manchmal wird mit eindeutig widerlegten Annahmen oder überholten Modellen gearbeitet.
„Gerade die Fortbildung scheint wenig Bezug zu aktuellen Forschungsbefunden zu nehmen.“
Andererseits sind wir in der Bildungsforschung oft gar nicht an dem Punkt, dass das vorhandene Wissen bis zu dieser Evidenzbasierung aufgearbeitet ist. Dies fängt damit an, dass in der Bildungsforschung vergleichsweise wenige Lehrbücher existieren, die fachübergreifend anerkannt sind, und über mehrere Auflagen hinweg, den „Kern“ des Fachs fortschreiben, oder dass erst seit kurzem Einrichtungen als „Clearing House“ beginnen, vorliegendes Wissen systematisch aufzubereiten. Oder nehmen Sie die Metavorhaben, die das BMBF in den letzten Jahren eingerichtet hat, um die Kommunikation von Bildungsforschung und -praxis zu unterstützten. Offensichtlich ist es schwierig, die hier relevante Evidenz aus dem „normalen“ Wissenschaftsbetrieb heraus zu entwickeln. Es braucht dazu spezielle Initiativen und Einrichtungen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kerres!
Michael Kerres ist seit 2001 Professor für Mediendidaktik und Wissensmanagement an der Universität Duisburg-Essen. Dort baute er das Learning Lab auf, das in Kooperation mit Partnern aus den verschiedenen Bildungssektoren gestaltungsorientierte Forschung zum digitalen Lernen betreibt.
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver