Fragen an die Gründer*innen des Erziehungswissenschaftlichen Netzwerks Diskursintervention Rechtsaußen

Die Gründer*innen von EN:DIRA (v.l.n.r.) Milena Feldmann, Carlotta Voß und Hendrik Richter
Milena Feldmann und Hendrik Richter geben Einblicke in das von ihnen gegründete Erziehungswissenschaftliche Netzwerk Diskursintervention Rechtsaußen, EN:DIRA. Als Reaktion auf die jüngsten Wahlerfolge der Rechten gegründet, ist das Netzwerk ein Ort des Austauschs zur gegenseitigen Information und Solidarität. Im Interview erläutern sie die Aktivitäten von EN:DIRA und heben die Verantwortung der Erziehungswissenschaft hervor, sich gegen Rechts zu positionieren.
Zum Gespräch mit den EN:DIRA-Gründer*innen
Lesefassung
Jens Röschlein: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Bildung auf die Ohren, dem Podcast des Deutschen Bildungsservers. Es begrüßen Sie Christine Schumann und Jens Röschlein. Nicht zuletzt mit der Bundestagswahl ist Deutschland ein Stück weiter nach rechts gerückt. Im Wahlkampf spielte das Thema Bildung zwar eine eher untergeordnete Rolle, das Erstarken von Rechtsaußenparteien hat allerdings Auswirkungen auf den Bereich Bildung in der tagtäglichen Praxis als auch auf den Diskurs. Öffentlich zeigte sich das nicht zuletzt auch bei der Bildungsmesse Didacta, auf der die AfD mit einem Stand vertreten war und dies ausgerechnet zum Thema Demokratiebildung. Das führte im Vorfeld und während der Messe zu Protesten, teilweise zum Boykott und bewog auch Marina Weisband schließlich dazu, die Auszeichnung als Bildungsbotschafterin abzulehnen und vor der schleichenden Normalisierung zu warnen. Wir treffen uns heute mit Personen, die etwas gegen den Einfluss von rechts auf Bildung tun. Wir begrüßen ganz herzlich mehrere Gäste des Erziehungswissenschaftlichen Netzwerks Diskursintervention Rechtsaußen, kurz EN:DIRA. Es sind zugeschaltet Melina Feldmann und Hendrik Richter. Möchten Sie sich kurz vorstellen?
Milena Feldmann: Ja, hallo in die Runde. Mein Name ist Melina Feldmann. Ich promoviere aktuell an der Universität Frankfurt zu einem Thema der erziehungswissenschaftlichen Alternsforschung. Es geht um Schutzkonzepte bei Kindern, älteren Erwachsenen und parallel absolviere ich aktuell eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Und mein Zweitkorrektor der Promotion ist Professor Markus Rieger-Ladich, der möglicherweise noch eine Rolle spielen wird und über den ich Hendrik Richter kennengelernt habe.
Mailingliste EN:DIRA
Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler, die in die Mailingliste von EN:DIRA aufgenommen werden wollen, schicken eine Mail an endira@posteo.de.
Hendrik Richter: Ja hallo, schönen guten Tag auch von meiner Seite. Ich bin Hendrik Richter. Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und bin da in dem Projekt QuaBIS, das ist Qualifizierung von Bildungsreferent*innen, also von Menschen mit Behinderungserfahrung, die wir zu sogenannten Bildungsreferent*innen ausbilden. Und ich habe im vergangenen Jahr promoviert und genau, soweit erstmal von mir.
„…hatten wir das Gefühl, etwas tun zu wollen“
Christine Schumann: Dann komme ich doch gleich zu meiner ersten Frage. Es geht um den Begriff EN:DIRA, ein erziehungswissenschaftliches Netzwerk Diskursintervention Rechtsaußen. Was bedeutet das? Was verbirgt sich denn dahinter?
Milena Feldmann: Wir haben dieses Netzwerk im September letzten Jahres gegründet und das ist zunächst mal ein erziehungswissenschaftliches Netzwerk, das im DACH-Raum organisiert ist, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz und sich gegen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit engagiert.
Wir haben aktuell rund 850 Mitglieder oder besser gesagt Interessierte auf einer Mailing-Liste, von denen circa 10 Prozent aktiv sind in verschiedenen AGs, die wir relativ zu Beginn gegründet haben. Und diese Mailing-Liste ist aktuell unser Herzstück. Darüber verteilen wir Informationen zu verschiedenen Veranstaltungen, Call for Paper, Aktionen, Aufrufe, Petitionen, die sich mit dem Erstarken von Rechtsaußen-Positionen im erziehungswissenschaftlichen Kontext beschäftigen.
Und gegründet haben wir uns so ein bisschen auch vor dem Hintergrund der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, wo wir auch eine starke Zunahme von Rechtsaußen-Parteien sehen mussten. Und vor diesem Hintergrund hatten wir das Gefühl, etwas tun zu wollen und uns auch als Erziehungswissenschaftler*innen positionieren zu wollen.
Der Begriff Rechtsaußen als Klammer für die unmittelbare Gefahr für die Demokratie
Jens Röschlein: Im Titel des Netzwerks verwenden Sie die Bezeichnung Rechtsaußen. Warum denn dieser Begriff? Oder auf was, auf wen zielt er denn ab – angesichts von verschiedenen anderen Bezeichnungen, wie zum Beispiel Rechtsextremismus, extreme Rechte, Rechtspopulismus? Warum gerade Rechtsaußen?
Hendrik Richter: Also als wir das Netzwerk gegründet haben, haben wir auch tatsächlich relativ lange darüber diskutiert, wie wir uns nennen wollen und auf welche Begrifflichkeiten wir uns einigen. Also genau wie Sie sagen, das waren Begriffe von Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, aber auch Rechtsaußen. Und wir haben uns tatsächlich an mehreren Rechtsextremismus-Forscher*innen orientiert, zum Beispiel Léonie de Jonge oder Alexander Häusler, die quasi den Rechtsaußenbegriff so in gewisser Weise als Oberbegriff vorschlagen, also als spektrumsübergreifende Klammer für unterschiedliche Organisationen, Positionen, worunter dann eben Rechtsextremismus oder Rechtspopulismus auch subsumiert werden können. Und mit Heike Radvan könnte man da auch argumentieren, dass der Begriff Rechtspopulismus in gewisser Weise auch eher eine Kommunikationsstrategie in erster Linie darstellt, um demokratiefeindliche Ziele zu verschleiern. Und deswegen dachten wir, wir verwenden den Rechtsaußenbegriff, wenngleich uns auch bewusst ist, dass er einige Schwierigkeiten hat. Also gerade wenn wir an Bezüge oder Begriffen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit denken, die ja auch in der Mitte der Gesellschaft irgendwie wiederzufinden sind, zielt der Rechtsaußenbegriff eher genau auf die Ränder von rechten Positionen ab. Aber wir wollten halt ein Netzwerk gründen, wo wir die unmittelbare Gefahr für die Demokratie ins Auge greifen. Und deswegen haben wir uns letztendlich dann für den Rechtsaußenbegriff entschieden.
Christine Schumann: Frau Feldmann, Sie hatten es ja eben schon kurz angedeutet, wie Sie dazu kamen, EN:DIRA zu gründen. Vielleicht können Sie das noch ein bisschen genauer beschreiben, unseren Hörerinnen und Hörern: Gab es jenseits dieser Landtagswahlen jetzt im letzten Jahr einen konkreten Anlass dazu? Und wie genau haben Sie denn zusammengefunden?
Milena Feldmann: Also wie gesagt, die Hintergründe waren tatsächlich diese Wahrnehmung eines zunehmenden Erstarken von Rechtsaußenpositionen in unserer Gesellschaft, was sich vor allem natürlich in Wahlergebnissen widergespiegelt hat, unter anderem die Wahlergebnisse der EU-Wahl, aber natürlich auch die Beobachtung, dass die rechten Parteien schon seit Jahren Gewinne verzeichnen. Wir denken an die 20 Prozent der AfD bundesweit bei der Bundestagswahl. In Thüringen und Sachsen lagen wir bei 38 beziehungsweise 37 Prozent. Und wir hatten das Gefühl, dass gerade bei den Erstwähler*innen, also wenn wir an die Europawahl nochmal denken, diese rechten Parteien ihre Stimmen fast verdreifachen konnten. Und wir als Erziehungswissenschaftler*innen da einen besonderen Auftrag vielleicht auch sehen, als Pädagog*innen oder als diejenigen, die Sozialarbeiter*innen und Lehrkräfte und Pädagog*innen ausbilden, irgendwie eine Handlungsmöglichkeit zu haben.
Hendrik Richter: Genau, also daran anknüpfend, was du jetzt gesagt hast auch, Melina. Also es sind ja nicht nur die Erstwähler*innen, wo extreme oder schon massive Zugewinne zu verzeichnen waren, sondern auch bei der U18-Wahl konnte man das beobachten. Auch wenn bei der U18-Wahl, das ging auch durch die Medien, die Linke zwar die stärkste Partei war, hat aber trotzdem gleichzeitig die AfD auch ihr Ergebnis von 2021 jetzt nochmal verdoppeln können. Und gerade in Bundesländern in Sachsen, Sachsen hat für uns natürlich jetzt eine Relevanz, weil sowohl Carlotta Voß als auch ich in Sachsen leben und auch hier arbeiten. Die Carlotta arbeitet in Halle, also in Sachsen-Anhalt, aber gerade in Sachsen eben auch die AfD bei der U18-Wahl zum Beispiel auf 31,6 Prozent gekommen ist, was schon irgendwie sehr erschreckend ist. Und ähnliches können wir quasi auch beobachten in der extremen Rechten und der Mobilisierung in den letzten Jahren, bei Demonstrationen, speziell jetzt auch gegen den Christopher-Street-Day zum Beispiel letztes Jahr in Sachsen, also zum Beispiel in Städten wie in Dresden oder in Bautzen, wo extrem viele junge Menschen mobilisiert werden konnten. Und das beschreiben eben auch zivilgesellschaftliche Akteure wie das Kulturbüro Sachsen zum Beispiel, RAA Sachsen, aber auch antifaschistische Rechercheteams, die eine extreme Zunahme von jungen Neonazis beobachten, die sich diesen Protesten anschließen. Und wo wir gesagt haben, eigentlich gehört es zu unserer Verantwortung als Erziehungswissenschaftler*in, hier auch irgendwie was zu machen und quasi den Diskurs mitzubestimmen und auch unsere Verantwortung in diesem Bereich zu sehen.
Milena Feldmann: Und jetzt fiel der Name Carlotta Voß gerade schon. Das hatte ich eingangs so ein bisschen angeteasert, dass sowohl Hendrik Richter als auch Carlotta Voß und ich gemeinsam ein Kolloquium besuchen, bei Markus Rieger-Ladich, der unsere Dissertation betreut hat oder teilweise noch betreut und wir in diesem Kontext viel diskutiert haben über unsere Verantwortung auch als Erziehungswissenschaftler*innen angesichts des gesellschaftlich-politischen Klimas aktuell. Und wir nach einem Kolloquium zusammensaßen und dachten, wir kommen jetzt mal ins Handeln. Wir wollen nicht immer nur diskutieren. Wir versuchen uns jetzt mal ein bisschen zu vernetzen, weil wir davon ausgegangen sind, und das hat sich auch schnell bestätigt, dass dieses mulmige Gefühl viele Erziehungswissenschaftler*innen umtreibt in der DACH-Region. Und viele auch schon dazu denken, forschen, diskutieren und wir das so ein bisschen zusammenführen wollten, weil wir der Überzeugung sind, dass wir uns jetzt organisieren sollten.
Ziele und Tätigkeiten von EN:DIRA
Jens Röschlein: Ja, was kann EN:DIRA dazu beitragen, gegen Rechtsaußen Position zu beziehen? Was sind ihre Ziele mit dem Netzwerk?
Milena Feldmann: Ja, das ist natürlich eine wichtige und relevante Frage. Zunächst mal geht es uns darum, dass wir das Thema platzieren wollen in der Erziehungswissenschaft, dass in der Lehre auch mehr verankert wird. Da geht es um solche Sachen, da kommen wir vielleicht später auch nochmal drauf zu sprechen, Umgang auch mit Neutralitätsgebot an den Universitäten: Was können, was dürfen wir überhaupt auch als Wissenschaftler*innen an der Universität? Wir würden uns aber vor allem, ja, glaube ich, in der Rolle sehen, Vernetzung zu ermöglichen. Perspektivisch kann das auch zu gemeinsamen Publikationen führen, zu Sammelbänden oder mal in der Organisation von einer Tagung. Aber ganz akut haben wir zum Beispiel eine AG Lehre, die Lehrkonzepte entwickelt, dass man sich da austauscht, dass nicht jeder Lehrstuhl vor sich hinarbeitet und vielleicht im Kleinen tolle Initiativen startet, tolle Lehrkonzepte entwickelt, sondern dass man sich da einfach austauscht und voneinander profitiert und gemeinsam Wissen teilt. Und dann geht es uns natürlich darum, auch Menschen in der erziehungswissenschaftlichen Community, die vielleicht noch stärker betroffen sind von diesen erstarkenden Positionen von Rechtsaußenakteur*innen, zu unterstützen und da auch Solidarität zu zeigen. Insofern verstehen wir es auch so ein bisschen als solidarische Gemeinschaft, auch wenn wir zum Beispiel den Blick über den Atlantik werfen und sehen, wie die Wissenschaft unter Druck gerät in den USA, dass wir uns da auch gegenseitig vielleicht beraten, ermächtigen, empowern, wenn wir selber mal in Bedrängnis kommen und das Gefühl haben, nicht mehr an der Universität vielleicht auch so lehren und forschen zu können, wie wir das für richtig halten.
Jens Röschlein: Sie hatten jetzt schon einiges angesprochen, was Sie auch machen. Ich möchte nochmal anknüpfen, vielleicht wollen Sie zu den Aktivitäten noch weiter ausführen und zudem bezeichnen Sie Ihr Netzwerk ja auch als Diskursintervention. Was ist damit gemeint und wie wird das umgesetzt?
Hendrik Richter: Genau, dazu will ich vielleicht was sagen. Also wir hatten das ja vorhin schon thematisiert, dass wir gesellschaftlich, politisch, medial eine Diskursverschiebung seit etlichen Jahren beobachten, immer weiter nach rechts, damit sind Sie ja auch eingestiegen und wir dachten, dass wir aus Perspektiven der Erziehungswissenschaft eben eine Diskursintervention setzen und eben ganz aktiv auch in diesen Diskurs eingreifen. Das bedeutet sowohl gesellschaftlich, politisch als auch in der akademischen Welt und gerade weil das Thema, was wir gerade auch hatten, das sehr viele Erst- und Jungwähler*innen ihr Kreuz bei der AfD gesetzt haben, sehen wir es eben als unsere Verantwortung, auch hier dieses Thema irgendwie stark zu machen und den Fokus darauf zu setzen. Zu der Frage, was wir aktuell machen, was unsere Aktivitäten sind: Also wir hatten jetzt mehrere Vorträge, die wir anbieten. Wir versuchen, sämtliche Vorträge aktuell online anzubieten, damit sie eben für den gesamten DACH-Raum auch zugänglich sind. Das heißt, Menschen, die sich bei uns engagieren in dem Netzwerk, auch egal wo sie wohnen oder leben, auf die Vorträge zugreifen können, mitmachen können. Es wird im kommenden Semester eine Ringvorlesung geben. Wir haben Workshops schon veranstaltet zum Thema Diskriminierungssensible Lehre, wo zum Beispiel Leute aus der Wissenschaft, aus der Lehre der Erziehungswissenschaft, aus der sozialen Arbeit daran teilnehmen konnten und eigene Erfahrungen mit Diskriminierung in der eigenen Lehrveranstaltung – das thematisieren konnten und dann besprochen werden konnte. In Zukunft, das hatte auch Milena gerade schon gesagt, versuchen wir irgendwie auch Publikationsstrategien zu entwickeln oder auch vielleicht sowas wie Podcasts, vielleicht voranzuschreiten. Und es gibt eine Gruppe, die nennt sich also ein AG bei uns, kreative Interventionen, die quasi eigene kreative Möglichkeiten entwickelt, in diesen Diskurs auch eingreifen zu können. Es gab jetzt bei der Bundestagswahl eine Idee, die wir auch umgesetzt haben, quasi eine automatische Mailantwort einzurichten, in der aufgerufen wurde, demokratisch zu wählen, sich demokratisch zu positionieren.
Milena Feldmann: Vielleicht, um das nochmal so ein bisschen zu konkretisieren, zu welchen Themen Veranstaltungen stattgefunden haben: da ging es einmal um so einen historischen Blick in die Entwicklung und auch noch so einen Rückblick, wie die neue Rechte heutzutage vielleicht zusammenhängt mit früheren rechtsautoritären Bewegungen. Es ging um die Verantwortung ganz konkret der Erziehungswissenschaft in diesem Feld, auch nochmal vor dem besonderen Hintergrund, dass die Erziehungswissenschaft in der Zeit von 1933 bis 1945 selbst involviert war in nazi-ideologische Positionen und auch Publikationen. Und dann hatten wir, das hatte Hendrik schon angesprochen, Workshops zu Rassismus-sensibler Lehre. Wir haben jetzt eine Veranstaltung ganz konkret nochmal zum Neutralitätsgebot, was das bedeutet, was das für uns bedeutet, also ein bisschen auch praktischerer Natur. Und wir haben auch eine eigene AG Veranstaltung, die sich jetzt darum kümmert. Das würde ich ganz gerne nochmal betonen. Wir stehen jetzt hier, Hendrik Richter und ich, Melina Feldmann, Carlotta Voß hat das mit uns gegründet, aber inzwischen sind wir wirklich ein demokratisches Netzwerk mit vielen engagierten Leuten, die dieses Netzwerk auch tragen und gestalten.
Ein Netzwerk für Erziehungswissenschaftler*innen und darüber hinaus
Christine Schumann: Das finde ich ja sehr beeindruckend. Sie hatten eingangs ja schon gesagt, Sie hätten schon 850 Mitglieder auf Ihrer Mailing-Liste. Also das hat mich ehrlich gesagt umgehauen, dass es schon so viele sind. Aber ich würde gerne mal wissen, woher kommen die alle? Sind das alles Leute aus den Erziehungswissenschaften, aus der Bildungsforschung oder aus der sozialen Arbeit, also eher im akademischen Bereich oder ist das auch für andere offen? Vielleicht können Sie dazu noch was sagen. Also wen wollen Sie denn damit erreichen und wer kann sich vernetzen und sich daran beteiligen?
Hendrik Richter: Also primär richten wir uns aktuell noch an Erziehungswissenschaftler*innen und der Großteil von den Mitgliedern bei uns auf der Mailing-Liste kommen auch genau aus der Erziehungswissenschaft, aus den Bildungswissenschaften und aus Nachbardisziplinen. Genau, also der Großteil ist schon die akademische Welt, die da irgendwie auf dieser Mailing-Liste abgebildet ist. Wenngleich trotzdem auch Leute aus der Zivilgesellschaft, Akteure, da sich mit auf die Mailing-Liste gesetzt haben und teilweise auch Lehrer*innen. Aber genau, der Großteil ist schon Erziehungswissenschaft und daran hatten wir uns auch gerichtet gehabt als erziehungswissenschaftliches Netzwerk. Perspektivisch wollen wir das aber schon öffnen. Da sind wir natürlich irgendwie gemeinsam im Gespräch mit den aktiven Mitgliedern und überhaupt mit den Mitgliedern des Netzwerks, um uns auch an Lehrkräfte und an Sozialarbeiter*innen, an Praktiker*innen zu richten und das dahingehend auch zu öffnen. Also weil gerade, als wir damit im September an den Start gegangen sind mit dem erziehungswissenschaftlichen Netzwerk, haben wir gemerkt, dass wir sehr viel Rücklauf auch von Praktiker*innen bekommen haben, die gesagt haben, ey, sowas brauchen wir gerade. Wir haben extreme Probleme bei uns an den Schulen. Wir brauchen Unterstützung.
Christine Schumann: Da würde ich gerne nochmal nachfragen, weil Sie sagten, dieses Netzwerk dient erst mal dazu, sich kennenzulernen, Strukturen zu schaffen, um über dieses Thema zu kommunizieren und um sich auszutauschen. So richtige Module in der Lehrerfortbildung oder so können Sie aber noch gar nicht anbieten. Da ist die Frage, wie diese ganze Überlegungen, was man tun könnte, wie man das tatsächlich nachher in die Praxis umsetzen kann. Machen Sie sich da auch schon Gedanken darüber?
Milena Feldmann: Also wir haben eine Arbeitsgruppe, die sich auch Vernetzung nennt und die so ein bisschen damit beschäftigt ist, auf der einen Seite sich mit anderen Netzwerken, Instituten und Forschungsverbänden auch zu connecten, zu vernetzen, wie zum Beispiel WiRex, das Wissenschaftsnetzwerk Rechtsextremismusforschung, das neue Institut Rechtsextremismus in Tübingen und anderen Forschungsverbänden. Gleichzeitig ist das auch die Gruppe, die sich um den Kontakt mit der Praxis bemüht. Das hatte ich ja auch vorhin schon mal erwähnt, dass wir vor allem aus der Verantwortung heraus, dass die Erziehungswissenschaft eben keine rein wissenschaftliche Disziplin ist, sondern irgendwie immer auch einen Praxisbezug hat, aus dieser Verantwortung heraus, wir das Netzwerk auch gegründet haben und insofern ist unser Fernziel durchaus, da auch wieder in die Praxis zurückzuwirken. Und wir sind ja jetzt noch ein relativ junges Netzwerk, ein halbes Jahr alt und wir sind, das muss man ehrlicherweise zugeben, auch noch dabei, uns zu finden und zu strukturieren, zu organisieren. Wir waren selber überwältigt von dem großen Andrang anfangs auf der Mailingliste und unsere Arbeitsgruppe Lehre ist also fleißig dabei, auch Lehrkonzepte auszuarbeiten, die dann prinzipiell vielleicht auch mit der Praxis geteilt werden können. Wobei, wie gesagt, primär wir jetzt erst mal uns noch an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler richten, auch von der Themenwahl unserer Veranstaltung her. Gleichwohl kann so eine Veranstaltung zum Neutralitätsgebot oder auch eine zu Familienideologien und Vorstellungen in der neuen Rechten natürlich auch für Pädagog*innen in Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen von Interesse sein und die sind dann auch herzlich willkommen, daran teilzunehmen. Und wofür wir zum Beispiel auch sehr offen sind, dass sich dann Lehrkräfte vielleicht auch innerhalb unseres Netzwerks finden und gemeinsam vernetzen und möglicherweise auch selbst Veranstaltungen organisieren, die dann für ihre Zielgruppe noch ein bisschen passgenauer sind.
Neutralitätsgebot meint Verantwortung
Jens Röschlein: Sie hatten jetzt auch schon das Neutralitätsgebot mehrfach erwähnt. Vielleicht könnten Sie noch ganz kurz umreißen, was damit gemeint ist und darüber hinaus aufzeigen, welche Themen und welche Diskurse es sind, die die rechten besetzen und bespielen wollen.
Hendrik Richter: Genau, also zum Thema Neutralitätsgebot bieten wir eine Veranstaltung an und da geht es darum, dass das Neutralitätsgebot häufig fälschlicherweise interpretiert wird in der Hinsicht, dass man als Lehrkraft an Schulen oder auch in der Universität als Lehrveranstaltungsleiter*in sich gar nicht politisch zu äußern, zu positionieren hat. Das Neutralitätsgebot sagt aber vielmehr auch aus, dass man sich im Hinblick auf die Demokratie und das Einsetzen für demokratische Werte sehr wohl politisch positionieren darf. Und gerade wenn wir im Hinblick auf Rechtsextremismus und auf verfassungsfeindliche Positionen damit auch gucken, ist es sehr wohl auch in der Verantwortung oder liegt es in der Verantwortung von Lehrveranstaltungsleiter*innen oder auch von Lehrkräften, dahingehend auch zu intervenieren und dem auch etwas entgegenzusetzen. Welche Themen wir jetzt sehen, die gerade von rechts irgendwie besetzt werden wollen, das sind auf jeden Fall Fragen, also Geschlechterfragen: Wenn wir an queere Menschen denken, wenn wir zum Beispiel auch an Inklusion denken. Die AfD ist ja nie müde geworden, sich dagegen zu positionieren, dass sie gegen eine gemeinsame Beschulung ist von Schüler*innen mit und ohne Behinderung. Die AfD ist auch oder rechtsextreme Positionen fokussieren auch immer wieder das leistungsorientierte Bildungssystem, was weiterhin gestärkt werden soll. Und da sehen wir in jedem Fall genügend Themen, wo Rechts versucht, eigentlich in diesem Diskurs einzugreifen und diese Themen zu besetzen, wo wir sagen, hier müssen wir eine Grenze setzen und versuchen, dagegen vorzugehen.
Milena Feldmann: Vielleicht auch noch als ein konkretes Beispiel, dass es in Niedersachsen ja inzwischen so eine Meldeplattform gibt, neutrale lehrer de, und da merkt man einfach, wo Schüler*innen und vielleicht auch Eltern und andere Personen von Schuleinrichtungen, also Lehrkräfte melden können, die ihrer Meinung nach gegen das Neutralitätsgebot verstoßen haben. Und da ist natürlich klar, dass die Unsicherheit zunimmt, sowohl bei Lehrkräften, aber auch an den Universitäten, vielleicht in den Hörsälen, in den Seminarräumen, dass man beginnt, darüber nachzudenken, wie kann ich mich eigentlich gerade äußern, mit welchen Konsequenzen, sowohl als Person, die in der Lehre tätig ist, aber vielleicht auch als Seminarteilnehmende und da so ein bisschen Unsicherheit abzubauen und das, was ich vorhin schon mal erwähnt hatte, auch Rat zu suchen, vielleicht in der Community, wenn jemand ähnliche Erfahrungen hatte. Wir hatten zum Beispiel in Workshops Fallbeispiele gesammelt, wo vielleicht auch Studierende menschenverachtende Positionen geäußert haben, sich auch als rechtsaffin geoutet haben, mehr oder weniger, und das aber dann eben einen Einfluss hatte, auch auf die Art und Weise, wie die Atmosphäre sich verändert hat in diesem Seminar und dass einzelne andere Studierende sich da in der Bedrängnis gesehen haben und auch offen diskriminiert wurden. Und wie geht man damit eigentlich um als Lehrperson? Also solche Fragen, dafür auch einen Raum des Austauschs zu bieten, das ist, glaube ich, auch ein Anliegen.
Hendrik Richter: Vielleicht nochmal anknüpfen daran, also wo finden Räume des Austauschs statt? Also wir hatten jetzt schon mehrmals den Workshop benannt, den haben wir schon zweimal veranstaltet, den werden wir auch im kommenden Semester wieder veranstalten und wir haben einmal pro Monat unser Netzwerktreffen, wo wir auch diese Möglichkeiten bieten des gemeinsamen Austausches und darüber hinaus hat sich tatsächlich auch eine eigene Regionalgruppe EN:DIRA Ost gegründet, quasi für die Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die sich auch regelmäßig in Präsenz treffen und dort sich über die eigenen Erfahrungen auch austauschen können und die gemeinsam auch Veranstaltungen planen.
Milena Feldmann: Und Stichwort Veranstaltungen, was da auch einfach konkret an Solidarität passiert, ist, dass es teilweise natürlich auch Geld kostet, dass wir Referent*innen bezahlen müssen und wir jetzt schon gemerkt haben, dass wir über dieses Netzwerk auch Finanzierungsmöglichkeiten haben, die sonst vielleicht fehlen und auch vor dem Hintergrund, dass man vielleicht befürchten muss, dass auch Gelder gekürzt werden für bestimmte Themen, auch in der Forschung, dass die Akzeptanz verringert wird für bestimmte Initiativen, zum Beispiel Schule gegen Rassismus oder queerfreundliche Initiativen und dass wir da sehen, in unserem Netzwerk gibt es aber auch Professor*innen, die Gelder zur Verfügung stellen können über ihre Lehrstühle, wo wir vielleicht auch bestimmte Finanzierungslücken ausgleichen können.
Wie kann man mitmachen?
Christine Schumann: Sie haben jetzt sehr, sehr viel genannt, was Sie machen. Wie kriege ich das denn mit, wenn ich interessiert bin? Woher kriege ich denn die Informationen, wenn ich neugierig bin? Kann ich mich auf Ihre Mailingliste eintragen lassen? Haben Sie eine Webseite, wo man schauen kann? Machen Sie publik, wann die Vorträge sind und die Workshops? Ist es digital? Also Fragen über Fragen?
Hendrik Richter: Wenn Sie Interesse haben an dem Netzwerk, dann können Sie uns gerne einfach ein E-Mail schreiben an endira@posteo.de, dann werden Sie auf die Mailingliste gesetzt und dann bekommen Sie eigentlich alle nötigen Informationen, die Sie brauchen.
Milena Feldmann: Und zusätzlich sind wir gerade dabei, beziehungsweise unsere Arbeitsgemeinschaft Öffentlichkeit eine Homepage zu erstellen, möglicherweise auch einen Social Media Auftritt, wo wir dann auch die tagesaktuellen Veranstaltungen publik machen.
Einfluss von Rechtsaußen auf die erziehungswissenschaftliche Forschung
Jens Röschlein: Ich habe zum Abschluss auch noch eine persönlichere Frage. Durch die Beschäftigung damit hat dieses Thema denn auch und ihr Engagement auch eine Folge und eine Einwirkung auf Ihre Forschung?
Hendrik Richter: Ja, also wir sind ja ein Netzwerk von Erziehungswissenschaftler*innen, wo es unterschiedliche Expertisen gibt. Es gibt einige Expert*innen im Bereich Rechtsextremismus und Rechtsaußen. Wenn Sie mich jetzt fragen, ich habe so Inklusion und Exklusion in der Schule geforscht. Das ist natürlich ein Thema, was auch von Rechts aufgegriffen wird. Also ich habe das ja vorhin schon gesagt, wenn es um Inklusion und quasi gemeinsame Beschulung von Schüler*innen mit Behinderung oder nicht mit Behinderung geht. Und da ergeben sich natürlich Zusammenhänge, die ich auch in den Blick bekomme oder in den Blick nehme. Das heißt aber nicht, dass ich mich jetzt als Rechtsextremismusforscher verstehe, sondern ich weiterhin an den Themen arbeite, an denen ich ohnehin schon gearbeitet habe und nicht in dem Bereich des Rechtsextremismus forsche.
Milena Feldmann: Ähnliches gilt auch für mich. Ich promoviere ja zu einem Thema der Schutz- und Gewaltforschung in Kindheit und höherem Lebensalter. Und ich würde sagen, dass auch da das Thema so indirekt reinragt. Insofern, als dass Gelder nicht zur Verfügung gestellt werden könnten, dass vielleicht auch bestimmte Altersgruppen, ich promoviere innerhalb der Erziehungswissenschaftlichen Altersforschung, dass bestimmte Altersgruppen auf eine besondere Art und Weise vielleicht angesprochen werden, affin sind, auf Social Media adressiert werden zu Themen der rechten Parteien, rechten Positionen und da genau hinzuschauen einfach. Wie findet das statt? Und auch Carlotta Voß, die Dritte im Bunde, die zu queeren Themen forscht, ist damit konfrontiert, dass diese Themen von rechten Akteur*innen besetzt werden und dass sie da auch Gegenwind bekommt. Viele Bereiche der Erziehungswissenschaft werden tangiert von diesem gesellschaftspolitischen Klima, in dem rechte Positionen gesellschaftsfähig werden und einfach mehr an Raum gewinnen. Das kann also die differenzsensible Pädagogik sein. Da geht es um die Frühpädagogik, um die Schulforschung, Schulentwicklung, die allgemeine Pädagogik. Letztlich beinahe alle Bereiche, würde ich sagen, haben direkt oder indirekt damit zu tun und können da also anknüpfen. Aber es ist eben keine Voraussetzung, wie Hendrik das vorhin auch schon betont hat. Wir sind kein Netzwerk von Erziehungswissenschaftler*innen, die dezidiert zu Rechtsextremismus forschen, sondern sind daran interessiert, uns einfach zu treffen, gemeinsam weiterzubilden, uns zu vernetzen und zu solidarisieren.
Jens Röschlein: Das ist auch ein sehr gutes Schlusswort. Vielen Dank für den Austausch, für die spannenden Einblicke in das noch im Werden begriffene Netzwerk, wie wir gelernt haben. Es hat uns sehr gefreut und wir wünschen Ihnen mit EN:DIRA weiterhin viel Erfolg. Und damit endet diese Folge von Bildung auf die Ohren, dem Podcast des Deutschen Bildungsservers. Ciao und bis zum nächsten Mal.
(Transcribed by TurboScribe.ai. Go Unlimited to remove this message. Wir haben das Interview für eine bessere Lesbarkeit geglättet.)
Dieser Podcast steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Jens Röschlein für Deutscher Bildungsserver.