Was haben Demokratiebildung und Religion miteinander zu tun?

Ein Gespräch über rassismuskritische Bildung

Die Leiterin des Hessischen Kompetenzzentrums Rassismus und Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft, Muniba Kalohn, berichtet wie jüdisch-muslimische Begegnungen und Bündnisse gegen Diskriminierung an der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt umgesetzt und Wissen zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus vermittelt wird.

In dieser Podcast-Episode spricht Christine Schumann mit Muniba Kalohn von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt darüber, was Demokratiebildung und Religion mit einander zu tun haben. Die Erziehungswissenschaftlerin plädiert dafür, religiöse Vielfalt als demokratische Ressourcen zu sehen anstatt als Bedrohung wahrnehmen – und kritisch zu reflektieren, wie beides miteinander verflochten ist. Für sie muss politische Bildung Räume schaffen, in denen Menschen über Glauben, Werte und Demokratie diskutieren können, ohne dass Vorurteile entstehen und Machtverhältnisse den Diskurs dominieren. Wie das mit den Projekten und Aktivitäten der Bildungsstätte Anne Frank gelingt, erklärt sie hier.

Zum Interview mit Muniba Kahlon


Lesefassung

Guten Tag und herzlich willkommen bei Bildung auf die Ohren, dem Podcast des Deutschen Bildungsservers. Mein Name ist Christine Schumann. Ich freue mich sehr, heute Muniba Kalohn von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt zu Gast zu haben. Mit ihr möchte ich über Demokratie oder Demokratiebildung und Religion sprechen. Frau Kalohn ist Leiterin des Hessischen Kompetenzzentrums Rassismus und Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft, das jüdisch-muslimische Begegnungen und Bündnisse gegen Diskriminierung fördert und Wissen zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus vermittelt. Aber am besten stellen Sie sich und Ihre Arbeit selbst vor, Frau Kahlon.Stempel transparent zur Aktionswoche Deutscher Bildungsserver "Demokratiebildung für gesellschaftlichen ZUsammenarbeit"

Muniba Kalohn: Hallo und guten Tag. Vielen Dank für die Einladung zu diesem interessanten Gespräch, liebe Frau Schumann. Wie Sie bereits erwähnt haben, mein Name ist Muniba Kalohn. Ich bin Bildungsreferentin seit 2019 bei der Bildungsstätte Anne Frank und leite seit mehreren Jahren verschiedene Projekte, unter anderem das Hessische Kompetenzzentrum Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft, das gefördert ist vom Hessischen Ministerium für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales. Allerdings muss ich hier noch mal erwähnen, dass es ursprünglich von der Planung her ein hessisches Kompetenzzentrum werden soll. Aber leider, wie das nun mal zur Zeit ist, mit den finanziellen Mitteln stehen wir immer noch auf dem Weg zur Vorbereitung und sind dann nicht wirklich weitergekommen. Das bedeutet konkret in diesem Fall, dass wir dann immer so etwa sechs bis acht Monatsabschnitte finanziert bekommen, um verschiedene Maßnahmen umzusetzen.
Des Weiteren leite ich noch zwei weitere Projekte. Einmal das Projekt „Frankfurter Schulen schauen hin“ und das Projekt „(K)Eine Glaubensfrage“. Das sind beides Projekte, die sich eher auf das schulische Gebiet fokussieren. Zurück zum Hessischen Kompetenzzentrum Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft. Dieses Projekt hat leider momentan immer einen sechsmonatigen Turnus und im Vordergrund stehen thematisch da tatsächlich der jüdisch-muslimische Dialog. Und bislang war das so, dass wir wegen dieser kurzen Finanzierungszeit uns dafür entschieden haben, dass wir eher offene Formate anbieten.

Was verstehen Sie denn unter offenen Formaten?

Muniba Kalohn: Normalerweise ist es ja so, dass wir als Bildungseinrichtung unsere Zielgruppen so ein bisschen vorgegeben bekommen, wie schon bereits erwähnt. So zum Beispiel das Projekt „(K)eine Glaubensfrage“ und „Frankfurter Schulen schauen hin“. Das ist eher im schulischen Kontext. Da habe ich einmal die Zielgruppe pädagogisches Fachpersonal an Schulen oder dann halt eben Lehrkräfte.
Und in dem Fall in dem Projekt Hessisches Kompetenzzentrum ist es wiederum so, dass wir das für die breite Öffentlichkeit geöffnet haben. Das heißt, auch interessierte Menschen, die nichts mit Rassismuskritik in dem Sinne zu tun haben, außer dass sie sich quasi selbst dafür engagieren, dass wir da Formate anbieten, an denen jedermann quasi teilnehmen kann. Das sind keine klassischen Fortbildungen oder Workshops. Das sind tatsächlich eher Fach- und Abendveranstaltungen. Abendveranstaltungen in dem Sinne, wir hatten zum Beispiel letztes Jahr im Rahmen der Jährung des 7. Oktobers und dem Krieg in Gaza, Teamtage auf die Beine gestellt für verschiedene Zielgruppen und unter anderem dann halt an einem Mittwoch für die breite Masse eher, wo wir die Abschlussveranstaltung „Sparkle of Hope“ unter diesem Projekt durchgeführt haben. Und bei der Abendveranstaltung haben wir uns dafür entschieden, dass wir ein gemeinsames Dinner haben und verschiedene Stimmen aus Hessen und auch Deutschland zusammenbringen, an einem Tisch bringen quasi, indem wir uns austauschen, wie der Umgang mit dem 7. Oktober hier für uns als Gesellschaft war und ist und haben unter anderem auch Sporttrainerinnen vom Makkabi-Verein eingeladen. Die Location, wo wir diese Abendveranstaltung haben, gehört den Ardinast-Brüdern. Das sind zwei jüdische Frankfurter, die ein Restaurant in dem Bahnhofsviertel haben namens Bar Shuka und quasi sehr viele auch muslimisch-arabische Angestellte haben und quasi durch ihr Zusammenleben, durch ihre Zusammenarbeit auch quasi für das Stehen, dass wir auch gemeinsam hier etwas leisten können und es nicht immer ein Gegeneinander ist. Wir hatten ja auch noch eine kleine Comedy-Einlage von einem chalessinensischen Comedian namens Abdul Kader Chahin und Sinn dieses Abendprogramms war es tatsächlich, dass wir zwischen den Essensgängen quasi dann noch mal Zeit den Leuten, die zu dieser Veranstaltung gekommen sind, die zu diesem Dinner gekommen sind, geben, um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Offene Formate wie gemeinsame Abendessen schaffen Räume für einen interkulturellen Austausch zwischen Menschen verschiedener Religionen, Kulturen und Herkunft.

Da hätte ich gleich mal eine Frage: Wie viele Leute kommen zu so einem offenen Format, in dem Fall zu so einem Dinner und wie setzen die sich zusammen?

Muniba Kalohn: Tatsächlich war das so gewesen, dass wir das über unsere Social-Media-Kanäle beworben haben und die Leute sich selbstständig dafür angemeldet haben. Wir mussten auch einen kleinen Unkostenbeitrag erheben, der über PayPal gezahlt wurde und hatten das eigentlich auf 100 Personen begrenzt und tatsächlich lagen wir aber am Ende des Tages oder an dem Abend bei 120 Personen, weil dann noch mal Leute an die Tür aufgetaucht sind und meinten, das ist ein total interessantes Format. Wir würden sehr, sehr gerne daran teilnehmen und da standen einige noch in der Warteschlange in der Hoffnung, dass jemand nicht kommt und das war dann auch der Fall. Der eine oder andere kam dann halt nicht, aber nichtsdestotrotz mussten wir dann manche Personen auch an der Tür leider, leider abweisen. Das Format kam sehr, sehr gut an und das waren Menschen aus den unterschiedlichsten Gebieten. Die waren noch nicht mal jetzt groß in der Bildungsarbeit tätig oder so. Das waren einfach interessierte Menschen, die der 7. Oktober privat auch interessiert und auch getroffen hat und die sich einbringen wollten in diese Abendveranstaltung. Also ich kann Ihnen nicht sagen, dass aus der und der Zielgruppe irgendwie aus der Hochschule mehr Menschen kamen oder irgendwie aus den Ämtern mehr Menschen kamen, sondern es war wirklich bunt gemischt.

Auch was die Altersstruktur, sage ich mal, und den kulturellen Hintergrund angeht?

Muniba Kalohn: Absolut, ja. Gerade bei der Altersstruktur waren wir sehr überrascht, weil wir wirklich von jung bis alt alles dabei hatten und so divers, wie es bei dieser Abendveranstaltung war, hatten wir es kaum. Entweder tauchen sehr, sehr junge Menschen auf, aber ältere Menschen sind ja nicht wirklich für solche Formate zu haben und wir waren total überrascht, wie durchmischt das eigentlich ist.
Und das Interessante war halt einfach auch und sehr befriedigend auch zu beobachten an dem Abend war tatsächlich, wie Menschen, fremde Menschen, die sich vorher noch nie im Leben begegnet sind, ins Gespräch kamen und es war nicht nur an den Tischen der Fall gewesen, weil wir hatten ja keine Sitzordnung oder ähnliches. Die Leute haben sich einfach hingesetzt, kamen irgendwie zu zweit oder zu dritt und dann waren ja längere Reihen und die kamen ins Gespräch und dann ging es sogar so weit, dass dann Leute irgendwie zwischendurch mal vielleicht eine Zigarette rauchen waren und draußen gestanden haben und da auch noch mal ins Gespräch gekommen sind, sodass sie dann abends dann auch Kontakte ausgetauscht haben und vielleicht hoffentlich noch heute im Diskurs sind.

Ja, das klingt wirklich nach einem geselligen und ausgesprochen auch netten Abend. Es scheint ein Format zu sein, das sich lohnt noch mal anzubieten oder zu wiederholen.

Muniba Kalohn: Absolut. Das haben wir auch tatsächlich, Frau Schumann, das würde ich auch noch mal ganz kurz erzählen. Wir haben dann auch später eine Bürgerrechtsorganisation aus Israel hier gehabt, Personen von denen, die sich zufällig nach Deutschland begeben haben für andere Formate und dann hat das super gepasst, dass wir ein weiteres Format unter diesem Projekt angeboten haben, „Building Bridges“, und da ging es auch vornehmlich um Dialoge. Wir haben zusätzlich hier hessische Vertreterinnen eingeladen, unter anderem „Sei ein Mensch“. Das sind die zwei Aktivistinnen, die immer mittwochs friedlich hier zur Demo aufrufen und sich am Rathausplatz auch treffen in Offenbach. Die findet man auch in den Medien. Das ist die Rechtsanwaltin Elishewa Patterson und der muslimische Imam Khaled El Sayed. Die haben wir unter anderem eingeladen. Auch die Staatssekretärin von dem hessischen Ministerium kam, um dann noch mal über die Wichtigkeit solcher Formate zu sprechen. Und es war auch ein tolles Format. Das haben wir auch wiederum so ausgerichtet, dass es in einer Location hier in Frankfurt war, die man vorher eigentlich anders wahrgenommen hat. Wir haben sie ein bisschen umfunktioniert und haben das dann auch noch mal so ein bisschen mit Essen verbunden.

Essen ist immer gut.

Muniba Kalohn: Das ist immer gut, genau. Das ist halt auch das Ziel dieses Projektes, Dialoge zu fördern.

Thema unseres Podcasts heute ist Demokratie, Bildung und Religion. Was hat das miteinander zu tun? Gerade bei jüdisch-muslimischen Dialogen, angesichts dieser katastrophalen Situation in Israel bzw. im Gazastreifen, muss man sich das ja auch noch mal fragen, was das auch für Deutschland bedeutet. Wenn man an die Universitäten denkt, wo dann plötzlich irgendwelche Sprüche skandiert werden und man sich fragt, ist das ein bisschen geschichtsvergessen. Andererseits sieht man die Situation in Gaza und steht fassungslos davor. Wie nehmen Sie diese Konflikte hier in Deutschland wahr? Und würden Sie sagen, Demokratie, Bildung hat was mit Religion zu tun und wenn ja, was?

Muniba Kalohn: Aus der Perspektive einer Bildungsreferentin für politische Bildung ist es so, dass in der Rassismuskritik Demokratie und Religion eher auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft sind. Das kann man nicht nur an einer Ebene festmachen. Einerseits geht es um Grundrechte und Pluralismus. Demokratie basiert eben auf Grundrechten wie Meinungs- und Religionsfreiheit. Und diese garantieren zu können, dass Menschen ihre Religion frei ausüben können und trotzdem, dass der Staat und die Religion getrennt bleiben. In der rassismuskritischen Bildung, in unserem Fall, bedeutet es, dass religiöse Vielfalt als demokratische Ressourcen darzustellen ist, anstatt sie eher als Bedrohung darzustellen, wie das leider durch viele Medien in den letzten Jahren und insbesondere nach dem 7. Oktober wiederholt passiert.

Demokratie und Religion sind auf mehreren Ebenen verknüpft. Religiöse Viefalt als demokratische Ressource ansehen, nicht als Bedrohung.

Es geht darum, dass wir aber auch Inklusion und Diskriminierung einander gegenüberstellen. Religiöse Gruppen, insbesondere die sich als anders wahrgenommen fühlen, sprich Muslime oder jüdische Gemeinschaften, erleben in der Demokratie oft Diskriminierung. Und in der rassismuskritischen Bildung geht es darum, dass man hinterfragt, wie diese strukturellen und institutionellen Mechanismen bestimmte Religionen marginalisieren und wie man eine demokratische Praxis fördert, indem man alle miteinbezieht. Außerdem geht es auch darum, dass wir die Demokratie als Aushandlungsprozess ansehen. Das heißt, Religion kann sowohl demokratische Werte fördern, als auch Spannung erzeugen. Das ist einfach so.
Politische Bildung sollte eher Räume schaffen, in denen Menschen über Glauben, Werte und Demokratie diskutieren können, ohne dass Vorurteile entstehen und Machtverhältnisse den Diskurs dominieren. Außerdem geht es darum, dass man tatsächlich die Religion, die zurzeit eher als Mobilisierungsfaktor genutzt wird, eher darauf hinweist, dass es eher kontraproduktiv ist für das Miteinander hier in Deutschland. Letztendlich würde ich nochmal unterstreichen, dass Demokratie und Religion eher nicht als Gegensätze zu betrachten sind, sondern es geht eher darum, Dinge kritisch zu reflektieren, wie beide eigentlich auch miteinander verflochten sind und wie wir es schaffen, Barrieren abzubauen, damit wirklich ein inklusiver Diskurs entstehen kann.

Um es nochmal ein bisschen konkreter zu machen. In welcher Form begegnet Ihnen, also in Ihrer Arbeit im hessischen Kompetenzzentrum Rassismus und Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft Diskriminierung? Und wie gehen Sie dann damit um? Und sind Sie persönlich als Muslima und politische Bildnerin auch von Diskriminierung betroffen?

Muniba Kalohn: Ja, tatsächlich lädt das ja auch ein. Also das äußere Bild natürlich, gerade wenn ich als muslimische Bildungsreferentin mit Kopftuch für die Fortbildung auftauche, wirft es dann halt auch schon gewisse Bilder auf und natürlich auch eine gewisse Haltung, das ist klar. Aber mir geht es tatsächlich eher darum, mich als Person eher quasi wegzuhalten. Das bedeutet, dass ich tatsächlich in meinen Workshops versuche, mit Beispielen zu arbeiten, Beispiele aus dem Alltag zu nehmen, die auch unter anderem Alltagsrassismus inkludieren oder Mikroaggressionen. Dann geht es darum, Szenarien darzustellen. Das passiert auch schon tatsächlich immer bei der ersten Einstiegsübung, dass wir quasi uns bewusst für Thesen, Situationen entscheiden, um dann quasi einen umgekehrten Blick auf Situationen zu werfen. Teilnehmende sollen dann in der Lage sein, sich quasi in diese Situation zu versetzen, um dann nochmal zu schauen, ob gewisse Situationen eben diskriminierend sind oder eben nicht. Als Beispiel kann ich einfach sagen, dass wir dann vielleicht Beispiele oder Szenarien einbringen, wie dass muslimische Frauenkopftuch weniger zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden oder eher benachteiligt werden.

Mit interaktiven Methoden wie Perspektivwechselübungen wird Alltagsrassismus szenisch dargestellt, um einen umgekehrten Blick auf die Situation zu werfen.

Oder dass es dann halt an Schulen für muslimisch gelesene Schülerinnen eher weniger die gymnasiale Bildungsempfehlung gibt, obwohl sie die gleichen Leistungen einbringen wie andere Schülerinnen. Es gibt aber auch Situationen, dass meine Expertise zum Beispiel infrage gestellt wird während Seminaren oder Workshops. Meistens sind das so Fragen wie, ganz banal, wie stehst du als muslimische Frau eigentlich zur Gleichberechtigung, als wäre mein Geschlecht oder meine Religion an sich ein Widerspruch. Und da setze ich eher darauf, dass rassismuskritische Reflexionen in meinen Workshops stattfinden. Das passiert meistens, wie gesagt, durch interaktive Methoden wie Perspektivwechselübungen oder das eben Arbeiten mit realen Diskriminierungsfällen. Dazu führen, dass auch Mikroaggression und Makroaggression aufgedeckt werden und auch Machtverhältnisse klarer für Menschen, privilegierte Menschen dargestellt werden, die eben nicht von Diskriminierung betroffen sind.

Es geht aber auch darum, dass in Diskussionsrunden mit Akteurinnen Muslime pauschal unterstellt wird, eben nicht demokratiefähig zu sein oder problematische Werte zu vertreten. Und da versuche ich, Räume zu konzipieren für einen differenzierteren Dialog. Das heißt, es müssen auch muslimische Stimmen gehört werden, um Klischees irgendwie aus dieser Welt zu schaffen.

Der Fokus Ihrer Arbeit liegt ja auf dem jüdisch-muslimischen Austausch. Sie haben das ja schon erzählt anhand dieser offenen Formate, wie man sich das vorstellen muss. Aber Sie sagen eben auch, Sie gehen auch in Schulen und bieten da Workshops an, machen interaktive Übungen. Gehen Sie auch in den Bereich der Sozialarbeit oder haben Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte? Also wenn ich jetzt eine interessierte Lehrerin wäre, könnte ich einfach zu Ihnen kommen und sagen, bitte, ich hätte gern mal einen Workshop oder einen Gast von Ihnen in meinem Unterricht.

Muniba Kalohn:  Das aber nicht unter dem Format Hessisches Kompetenzzentrum, sondern tatsächlich durch unsere anderen Projekte. Ich hatte ja eingangs schon erzählt, dass ich auch die Projektleitung für das Projekt Frankfurter Schulen schon hin inne habe. Das ist ein Projekt für pädagogisches Fachpersonal an Schulen. Mittlerweile sagt man nicht mehr so gerne Schulsozialarbeiterinnen. Das habe ich auch im Laufe der Jahre dann gelernt. Die nennen sich lieber pädagogisches Fachpersonal an Schulen. Die arbeiten ja an Schulen auch in der Jugendhilfe oder in der Ganztagsbetreuung. Und dieses Projekt ist zum Beispiel vom Frankfurter Stadtschulamt gefördert. Je nach Bedarf bieten wir da Fortbildungen an. Da kommen geschlossene Gruppen zu uns. Meistens dann schon, wenn was passiert ist, sprich das und das ist passiert oder dieses und dieses Problem haben wir in unserer Schule. Hätten Sie Zeit, hätten Sie die Kapazität, uns dann eine Fortbildung zum Thema XY zu geben.

In der Lehrkräfte-Fortbildung gibt es keine verpflichtenden Module oder Sensibilisierungsworkshops für rassismuskritsche Bildung.

Das Gleiche gilt auch für Lehrkräfte-Fortbildung. Dieses Projekt ist vom hessischen Kultusministerium gefördert. Es nennt sich „(K)Eine Glaubensfrage“. Ein weiteres Projekt haben wir auch vom hessischen Kultusministerium namens „Antisemitismusprävention an hessischen Schulen“. Und da sind wir vornehmlich mit Lehrkräften tätig. Und da ist es aber auch wiederum so, dass wir erst quasi gerufen werden, wenn schon etwas passiert ist. Wir haben festgestellt, dass es an Schulen tatsächlich auch Kompetenzen fehlt, weil eben im Studium, in der Ausbildung der Lehrkräfte oder dieser pädagogischen Fachpersonen Ausbildungsformate einfach fehlen. Es fehlt einfach. Sie können sich für das eine oder andere Seminar natürlich auch freiwillig anmelden, aber es gibt keine Sensibilisierungsworkshops in dem Sinne oder Module für Lehrkräfte oder Fachpersonen aus der Pädagogik, die auch irgendwie verpflichtend sind. Und das ist halt das, woran wir uns immer wieder stoßen.

Zurecht, weil es ist ja schwierig. Auf der einen Seite wird darüber geklagt, also wie schwierig es ist, eingewanderten Kindern oder Kindern, die keine deutschsprachigen Eltern haben, wie schwierig es ist, denen Deutsch beizubringen angesichts einer großen sprachlichen Vielfalt. Und dann kommen die Lehrerinnen und Lehrer aus dem Referendariat und stehen plötzlich vor diesen Klassen und haben nicht einmal eine Ahnung, wie sie damit jetzt umgehen sollen. Da ist jeder überfordert.

Muniba Kalohn: Schade ist halt einfach nur, dass dadurch, dass die Finanzierung momentan fehlt, wir haben das ja jetzt auch am Wochenende aus Berlin erfahren, dass das Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung, das konkret an Schulen arbeitet, zum Beispiel die komplette Finanzierung gestrichen wurde. Und es ist halt einfach ein bisschen erschreckend mitzubeobachten, dass so wichtige Thematiken aufgrund von vermeintlich fehlenden Geldern wegfallen oder weggestrichen werden oder auch wirklich nur begrenzt da sind. Das heißt, wir haben ein Projekt, was auf eine Laufzeit von eineinhalb Jahren für Schulen ausgelegt ist, vom Hessischen Kultusministerium finanziert, wo aber hessenweit nur acht Lehrkräftefortbildungen inkludiert sind und einiges an Jugendmaßnahmen. Aber trotzdem, wenn man das so irgendwie als Gesamtprogramm betrachtet, ist es zu wenig.

Die Laufzeit und Ausstattung der Projekte ermöglicht es nicht, vertiefend mit Schulen oder Lehrkräften weiterzuarbeiten.

Das heißt, wir sind gar nicht in der Lage, irgendwie vertiefend mit einzelnen Schulen oder Lehrkräften weiterzuarbeiten, weil uns da die finanziellen Mittel fehlen, aber den Schulen genauso. Motiviert sind viele, viele Lehrkräfte oder auch das Personal allgemein an Schulen, aber es fehlt halt einfach auch an finanziellen Mitteln und das ist dann halt das, woran wir uns schulden. Aber nichtsdestotrotz versuchen wir uns hier das Beste zu leisten und für Lehrkräfte, die auch wirklich engagiert sind, irgendwie da zu sein.

Ich hatte mir noch eine Frage notiert. Ich bin mir nicht sicher, ob die sinnvoll ist an der Stelle. Ich möchte sie trotzdem mal stellen. Ob Wissensvermittlung zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus auch bedeutet, Kenntnisse zu Religion und Kultur zu erwerben und wie Sie das machen? Sie sagten vorher in der politischen Bildung werden Räume eröffnet, um darüber zu sprechen, aber wie sehen Sie das?

Muniba Kalohn: Das ist eine tolle Frage, Frau Schumann, wirklich. Also hier zu diesem Thema in meiner Arbeit als Bildungsreferentin in der politischen Bildung setze ich bei der Vermittlung von Wissen zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus bewusst nicht den Fokus auf religiöse oder kulturelle Aspekte. Der Grund dafür ist einfach, eine zu starke Betonung von Religion, das würde zu einer gewissen Exotisierung führen, die wir ja eben gerade vermeiden wollen. Es würde aber auch zur Reproduktion von Othering zum Beispiel führen, also die anderen und wir. Stattdessen verfolge ich in diesem rassismuskritischen Ansatz eher die Diskriminierungsmechanismen in diesem Fall im Vordergrund zu stellen. Was heißt das jetzt aber konkret?
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus sind keine religiösen Konflikte in dem Sinne, sondern Ausdruck von struktureller Diskriminierung. Ich versuche eher zu vermitteln, dass es sich um gesellschaftliche Konstruktion handelt, die historisch gewachsen sind im Laufe der Jahre, die man auch sehr gut verfolgen kann, wenn man sich verschiedene Statistiken ansieht und politische und soziale Funktionen in dem Moment auch irgendwo erfüllt. Mit Benachteiligung und eben keine Benachteiligung, privilegiertere Haltung oder eher benachteiligte Haltung, je nachdem. Die religiöse Zugehörigkeit ist eben nicht der Grund für Diskriminierung. Vielmehr sind es Menschen, die aufgrund von zugeschriebenen Merkmalen ausgeblendet werden, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht. Das ist im schulischen Kontext immer wieder interessant. Leider hebe ich das jetzt immer wieder hervor, weil ich jahrelang schon im pädagogischen Bereich tätig bin. Es ist auch so interessant, wenn Lehrkräfte anrufen und dann auch sagen, wir haben ein Problem, weil die muslimischen Schülerinnen und Schüler dies und jenes, so geht es dann weiter. Und es fängt dann schon an, diese Homogenisierung quasi als eine Gruppe vereinheitlichen zu können, die muslimischen Schülerinnen und Schüler, die dann halt Probleme bereiten. Und genau da geht es bei meiner Arbeit darum, diese Missstände quasi aufzuweisen.

Und das gelingt?

Muniba Kalohn: Ja, mit interaktiven Formaten definitiv. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die sich von nichts beeindrucken lassen. Das sollte einen nicht entmutigen. Es geht nämlich auch darum, dass man wirklich klarstellen muss, also es ist den meisten Menschen auch bewusst, aber es gibt nicht den Islam und das Judentum, sondern wir leben in einer Gesellschaft mit einer vielfältigen und individuellen Lebensrealität. Und wenn man das dann so quasi ausspricht, macht es dann meistens nochmal Klick, obwohl man das ja weiß. Es ist trotzdem so, dass man bei den Fortbildungen, wenn man das dann sagt, diesen gewissen Aha-Effekt einfach nochmal hat. Das ist immer wieder sehr, sehr interessant zu beobachten.

Um herauszuarbeiten, welche Narrative in der Gesellschaft im Hinblick auf besteimmte Gruppen dominieren, sind Medien- und Diskursanalysen in den Fortbildungen sehr wichtig.

Und was mir immer wieder wichtig ist, dass wir tatsächlich auch bei diesen Fortbildungen auch Medien- und Diskursanalysen führen. Warum ist das so wichtig? In den Medien werden oft jüdische und muslimische Menschen in der Öffentlichkeit eher, ja vielleicht auch negativ, also gerade muslimische Menschen werden in der Öffentlichkeit, in den Medien eher negativ dargestellt. Und ich versuche dann gemeinsam mit den Teilnehmenden zu erarbeiten, welche Narrative eigentlich dominieren in der Gesellschaft und warum. Und da geht es darum, das anstatt religiöse Inhalte zu thematisieren, analysieren wir lieber mit Teilnehmenden gesellschaftliche Gegebenheiten, die dann quasi die anderen in Anführungszeichen konstruieren, um sich selbst Privilegien zu sichern oder halt eben Ängste zu schwören, wie wir das in den letzten Wochen leider auch durch die vermehrten Attentate auch vernehmen konnten. Als letzten Punkt ist mir halt auch manchmal sehr, sehr wichtig, je nachdem in welchem Format wir uns befinden, dass wir Perspektiven von Betroffenen auch einbinden, von Betroffenen von Diskriminierung und das geht meistens durch Erfahrungsberichte oder Perspektivwechselübungen auch. Also dass wir dann halt auch konkret verdeutlichen, wie sich Menschen, die durch Antisemitismus oder antimuslimischen Rassismus betroffen sind, fühlen, unabhängig davon, ob die betroffene Person in dem Moment religiös ist oder nicht.
Und tatsächlich geht es aber auch darum, gewisse Ansätze an Empowerment auch darzustellen. Es geht einfach nur, wenn man Betroffene eher mit in den Mittelpunkt stellt, statt nur über sie zu sprechen.

Da ist was dran. Angesichts der Zeit, wir haben nicht mehr so viel Zeit. Da verquatscht man sich immer sehr, sehr gerne. Und ich wollte gerne noch meine Abschlussfrage stellen, weil das bestimmt auch noch mal interessant ist. Die ist zugegebenermaßen groß. Woran mangelt es in der Gesellschaft Ihrer Erfahrungen nach oder was würden Sie sich wünschen?

Muniba Kalohn: Darüber kann man tatsächlich noch weitere 20 Minuten sprechen, Frau Schumann, aber ich hatte das ja eingangs schon erwähnt, dass es wirklich sehr, sehr schade ist, dass aufgrund von finanziellen Mitteln viele Dinge wegbrechen. Das ist auf jeden Fall das, was ich mir von der Politik konkret oder auch von der Öffentlichkeit, von der Gesellschaft auch wünsche, dass diese Wichtigkeit von solchen Formaten noch mal unterstrichen wird, indem man immer wieder danach fragt. Und tatsächlich wünsche ich mir auch auf jeden Fall weiterhin einen offeneren Diskurs auch untereinander. Und das geht einfach nur darum, wenn man tatsächlich an einen Tisch kommt.

Ich finde es immer wieder toll, auch für das Hessische Kompetenzzentrum tätig zu sein, weil das eben so ein Format ist, was immer wieder Hoffnung in mir hervorruft. Aber leider sind das nur sehr, sehr begrenzte Maßnahmen, die wir hier treffen können. Ich wünsche mir einfach nur, dass Menschen, die sich weiterhin für eine disziplinierungsfreie Gesellschaft einsetzen, gehört werden und an Dominanz finden.

Und wir treffen uns ja heute tatsächlich einen Tag nach der Wahl. Wahlprognosen hin oder her, ich habe es jetzt auch schon eben heute mit Kolleginnen besprochen, ja, die Wahlprognosen sind eigentlich ja sehr gut mittlerweile. Und wir wussten das auch und wir waren auch mental darauf vorbereitet, aber es dann doch noch mal umgesetzt zu sehen, wie die Wahlergebnisse letztlich ausgefallen sind, ist wirklich traurig. Aber nichtsdestotrotz sollten wir uns nicht demotivieren lassen. Und ich hoffe einfach nur, weiterhin Menschen zu finden, die eine gewisse Art von Fellowship mit uns bilden und wir dann Positiveres in der Gesellschaft bewirken können.

Ja, da bin ich vollkommen bei Ihnen.

Wir bleiben stark und stemmen uns dem Ganzen entgegen. Herzlichen Dank, Frau Schumann.

Wunderbar. Ich danke Ihnen, Frau Kahlon.

(Transcribed by TurboScribe.ai. Go Unlimited to remove this message. Wir haben das Interview für eine bessere Lesbarkeit geglättet.)


Dieser Podcast steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver



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