Wie Virtual Reality in der Lehrerbildung eingesetzt werden kann
FRAGEN AN Prof. Dr. Dirk Richter, Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung, und Eric Richter, Akademischer Mitarbeiter an der Universität Potsdam. Die beiden haben gemeinsam eine vom Institut für Informatik und Computational Science entwickelte Virtual-Reality-Anwendung (VR) genutzt, um damit Unterricht und den Umgang mit Störungen zu simulieren. Mit praktischen Übungen in einem virtuellen Klassenzimmer führen sie Studierende in die Geheimnisse der Klassenführung ein und vermitteln ihnen ein für verschiedene Unterrichtssituationen angemessenes Handlungsrepertoire. Der Einsatz von VR-Anwendungen interessiert sie aber nicht nur auf der praktischen Ebene, auch auf wissenschaftlicher Ebene ergeben sich interessante Fragestellungen – zum Beispiel inwieweit die durch das virtuelle Training erworbenen Kompetenzen auch in realen Stresssituationen erfolgreich eingesetzt werden können.
Herr Prof. Richter, wie kam es zur Zusammenarbeit mit den Informatikern Ihrer Universität?
Dirk Richter: Wir wurden von einem Mitarbeiter des Instituts für Informatik der Uni Potsdam angefragt, ob ein Virtuelles Klassenzimmer auch für die Bildungswissenschaften von Interesse sei. Nachdem wir die Software gemeinsam erprobt haben, war klar, dass wir sie im Rahmen eines Seminars einsetzen wollen, und wir haben daraufhin das Seminar Klassenmanagement in Theorie und Praxis konzipiert und angeboten.
„Die VR-Anwendung der Kollegen war als Prototyp eigentlich gleich nutzbar.“
Eric Richter: Wir haben gewissermaßen den Praxistest für die technische Entwicklung übernommen. Die Informatik-Kollegen entwickeln ja sehr viele Anwendungen in verschiedenen Projekten und suchen Kooperationspartner, die das in der Praxis anwenden.
Können Sie uns kurz beschreiben, wie das Virtuelle Klassenzimmer funktioniert?
Eric Richter: Wir haben zwei Möglichkeiten es einzusetzen: Wir können im Klassenraum entweder automatisiert Störungen ablaufen lassen oder in einem Live-Coaching einzelne Störungen an- und ausschalten. Die Übungssequenzen liegen übrigens in der Regel bei 10 Minuten, weil es den Studierenden durchaus auch mal schlecht werden kann.
Dirk Richter: Wir haben eine recht große Reihe üblicher Störsituationen einprogrammiert: Dazu gehört beispielsweise mit dem Stift spielen, den Kopf auf die Bank legen, mit dem Nachbarn reden, ihn schlagen oder Papierkugeln werfen. Nehmen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer eine Störung wahr, können sie diese adressieren, indem sie zum Beispiel eine Schülerin darauf ansprechen, sie ermahnen oder auch Konsequenzen androhen. Eine reale Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler wie beispielsweise in Frage-Antwort-Sequenzen findet aber noch nicht statt. Die Rückmeldungen auf die jeweilige Reaktion der Lehramtsstudierenden erfolgt über einen realen Coach, der entscheidet, ob der Schüler weiter stört oder die Störung beendet wird.
Wo genau liegen aktuell die Grenzen der VR-Anwendung?
Eric Richter: Die Grenze ist die künstliche Intelligenz, die es in der Anwendung eben noch nicht gibt. Die virtuellen Schüler, also die Avatare, die im virtuellen Klassenzimmer sitzen, sind noch nicht in der Lage selbständig zu agieren. Im Moment ist das die größte Hürde und für die Entwickler auch technisch am aufwändigsten.
Dirk Richter: Wir würden gerne zu einem Punkt kommen, an dem die Software automatisch erkennt, wann die Reaktion der Lehrkraft hinreichend ist. Sie sollte erkennen können, wann eine Intervention potenziell erfolgreich ist und wann nicht – also die Störung entsprechend beenden, oder sie eben weiterlaufen lassen, wenn die Ansprache der Lehrkraft nicht funktioniert hat. Noch haben wir lediglich einen standardisierten Klassenraum, in dem standardisierte Störungen auftreten, der es uns ermöglicht zu beobachten, wie sich die Studierenden in solchen Situationen verhalten. Wir sind also noch nicht an dem Punkt, an dem angehende Lehrerinnen und Lehrer solche Situationen wie in einem Flugsimulator üben können und automatisch Feedback bekommen. Mit unserem Seminar wollen wir aber im Grunde genau das: Mithilfe des Virtuellen Klassenzimmers Lehramtsstudierenden beibringen auf eine Störung situationsadäquat zu reagieren, ohne dabei die immer gleiche Methode anzuwenden.
Die Lehramtsstudierenden sollen also unmittelbar aus der Situation selbst heraus lernen?
Eric Richter: Genau! Gerade zu Beginn des Semesters erleben wir ganz oft, dass die Studierenden bei den Übungen im virtuellen Klassenzimmer eine Störung erleben und gar nicht mehr in der Lage sind zu reagieren, sie unterrichten nicht weiter, fangen an zu stammeln oder zu stottern. Das ist der Punkt, über den wir hinaus wollen: Wir wollen ihnen helfen ein angemessenes Handlungsrepertoire aufzubauen und Handlungssicherheit zu gewinnen. Wir wollen, dass sie ihre Lähmung überwinden und lernen angemessen zu reagieren.
„Es geht uns darum, angehende Lehrerinnen und Lehrer in schwierigen Unterrichtssituationen handlungsfähig zu machen.“
Wie ist die Resonanz auf Seiten der Studierenden?
Eric Richter: Das Feedback ist durchweg positiv. Wir bieten das Seminar jetzt im dritten Durchgang an und haben eine ungebrochen hohe Nachfrage. Natürlich sehen die Studierenden auch die bereits angesprochenen Schwächen. Gleichzeitig empfinden sie es aber als gewinnbringende Erfahrung in eine solche Stresssituation zu kommen, in der sie handeln müssen. Ein weiterer Vorteil des virtuellen Klassenzimmers ist, dass wir Microteaching in einer immersiven Umwelt üben können. Wir müssen unsere Studierenden nicht mehr bitten, die Rollen von Schülern zu übernehmen, sondern können so tun, als wären wir tatsächlich in einem Klassenraum. Denn mit der VR-Anwendung haben sie alle Merkmale eines typischen Klassenraums um sich herum und können Unterrichtssituationen realer umsetzen als das mit klassischem Microteaching möglich wäre.
Sie nutzen das Virtuelle Klassenzimmer nicht nur in der Lehrerbildung, oder?
Dirk Richter: Nein, wir möchten auch erforschen, ob sich erfahrene Lehrkräfte im virtuellen Klassenzimmer genauso verhalten wie im realen Unterricht. Darüber hinaus interressiert uns auch, ob sich Junglehrerinnen und -lehrer in realen Unterrichtssituationen genauso verhalten, wie sie es im virtuellen Klassenzimmer gelernt haben. Bei Übungen im VR-Szenario wird öfter mal gesagt, „Da muss ich mich erst mal orientieren.“ oder „Das habe ich ja noch nie gemacht.“ Wir stellen uns die Frage, ob über das virtuelle Training tatsächlich validierbare Kompetenzen erworben werden, die auch in realen Stresssituationen erfolgreich eingesetzt werden können.
Können über das Training mit dem virtuellen Klassenzimmer Rückschlüsse auf tatsächliche Kompetenzen gezogen werden?
Eric Richter: Interessant wäre es außerdem zu untersuchen, ob die Performance der (angehenden) Lehrkräfte im VR-Klassenzimmer Rückschlüsse auf ihre reale Kompetenz erlaubt. Wir überlegen außerdem, ob der Fokus unserer VR-Anwendungen auch auf anderen inhaltlichen Schwerpunkten der Lehrerbildung liegen könnte, also nicht nur auf dem Klassen-Management. Wir glauben beispielsweise, dass sich mithilfe des Virtuellen Klassenzimmers auch diagnostische Kompetenzen angehender Lehrkräfte trainieren lassen. Das Projekt ist also auf mehreren Ebenen sehr spannend!
Dirk Richter: Unser Plan ist es, die Technik intelligenter und variabler zu machen, indem man beispielsweise verschiedene Raumkonstellationen und Schülerzahlen implementiert. Wir experimentieren aber auch mit neuen didaktischen Formaten. Wir nehmen beispielsweise das Handeln der Studierenden auf Video auf und reflektieren darüber im Seminar. Diese Angebote sollen dazu beitragen, dass die Studierenden auf viele unterschiedliche Arten und Weisen über Klassenmanagement und ihr Handeln im Unterricht nachdenken und entsprechende Expertise aufbauen.
Künstliche Intelligenz und Bildung
Das Dossier des Deutschen Bildungsservers zum Wissenschaftsjahr 2019: Mit Links zur KI-Strategie der Bundesregierung, zu mit dem Thema beschäftigten Forschungseinrichtungen, zu Informationssammlungen zum Bereich Arbeit und Qualifizierung sowie zu Materialien zur Behandlung des Themas im Schulunterricht.
Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?
Dirk Richter: Es wäre schon interessant zu wissen, wer noch zum Thema Virtual Reality und Lehrerbildung arbeitet. Wir kennen zwar das Projekt ViLeArn, Virtual Reality (VR) in Lehr- und Lernszenarios, der Universität Würzburg und kooperieren mit Prof. Kleickmann von der Universität Kiel, der unsere Anwendung auch im Virtual-Reality-Labor der Uni nutzen möchte. Aber die Technik ist nicht so ausgereift, dass man sie in die Fläche tragen könnte. Um sie wirklich intelligent zu machen, sind noch umfangreiche Programmierarbeiten notwendig. Über einen Sonderfond der Universität Potsdam finanzieren wir gerade eine befristete Kurzzeitstelle, aber das reicht natürlich bei weitem nicht aus. Wir brauchen also einerseits Geld und andererseits einen fähigen Informatiker oder eine fähige Informatikerin. Auch Kooperationspartner mit Ressourcen oder Know-how wären wünschenswert.
Den Herren Richter vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver
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