„Gute Schulen sind demokratische Schulen“

Demokratie und Bildung (1)

Lehrkräfte müssen Lebenswelten und Bedürfnisse ihrer Schüler selbstverständlicher in die Unterrichtsgestaltung einbeziehen

INTERVIEW mit Christian Welniak, Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe). Die DeGeDe wurde 2005 gegründet, um die Erkenntnisse aus dem BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ weiter zu entwickeln und demokratische Bildung in Schulen und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche zu fördern. Sie verleiht seit 2015 alle zwei Jahre den Preis für demokratische Schulentwicklung „DemokratieErleben“ und hat 2018 das Bündnis „Bildung für eine demokratische Gesellschaft“ initiiert, dem mittlerweile mehr als 60 Organisationen angehören. Herrn Welniak haben wir gefragt, wie es um die Demokratiebildung in Deutschlands Schulen bestellt ist, worauf es bei demokratischer Schulentwicklung ankommt und welche Ansätze besonders fruchtbar sind.

Herr Welniak, über Demokratiepädagogik – gerade auch in der Schule – gibt es so viele Informationen und Initiativen, dass man den Eindruck gewinnen könnte, alle Schulen seien sich des Themas bewusst und agieren entsprechend. Wie ist Ihre Einschätzung?

Die DeGeDe arbeitet in erster Linie mit Schulen, Lehrkräften und Schülern zusammen, die sich für Demokratiebildung und -entwicklung in besonderem Maße einsetzen. Eine allgemeine Einschätzung zu geben, fällt mir deshalb schwer. Als Erziehungswissenschaftler fehlen mir Erhebungen, ob und wie Schulen demokratische Schulentwicklung und Demokratiebildung in Konzepten, Schulprogrammen oder in sonst einer Art und Weise auf der Agenda haben. Aber ich erkenne das Bemühen, demokratische Entwicklung in Schule voranzutreiben und zu unterstützen. Das zeigt sich in den vielen Initiativen und Organisationen, die sich am Bündnis Bildung für eine demokratische Gesellschaft beteiligen, und in den immer beeindruckenden Einreichungen zu unserem Preis, in denen deutlich wird, was im Interesse von Demokratisierung und Kinderrechten möglich ist.

„Der grundsätzliche Anspruch, Kindern und Jugendlichen auch in der Institution Schule eine Form der Mitgestaltung zu ermöglichen, ist im Bewusstsein der Schulleitungen präsent.“

Der Druck, der in den letzten Jahren insbesondere von menschenfeindlichen Rechtspopulisten ausgeübt wurde, hat dazu geführt, das Thema Menschenwürde und Demokratie in den Schulen auf die Agenda zu setzen; Impulse aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Bildungspolitik – dazu gehört auch der KMK-Beschluss von 2018 – haben dazu beigetragen, dass sich etwas bewegt. Beim Werkstatt-Projekt „Demokratie lernen – Partizipation gemeinsam gestalten“ mit der Deutschen Schulakademie in Hamburg konnten wir ein großes Interesse erkennen, das Thema Demokratie in der Schule anzugehen.

Es gibt aber sehr viele Schulen, die sich mit dem Thema nicht offensiv auseinandersetzen.

Ja, nach wie vor gibt es Schulen, die mit dem Selbstverständnis leben, dass in einem demokratischen Rechtsstaat Schulen per se schon demokratisch seien. Genau das war auch ein Argument der Bundesländer, die sich an dem BLK-Programm „Demokratie leben und lernen“ von 2002 bis 2007  nicht beteiligt haben. Diese Haltung ist ja auch nicht ganz unberechtigt, weil in den Ländergesetzen Mitbestimmung und Mündigkeit immer auch vorgesehen und institutionalisiert sind. Aber wie sieht die Praxis aus? Wenn wir Demokratie als Lebensform anschauen, gelangen wir schnell auf die Ebene der pädagogischen Interaktion im Unterricht und zu Forschungsarbeiten wie dem INTAKT-Projekt von Annedore Prengel (Anm. d. Red.: INTAKT steht für Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern). Für sie stehen Fragen des miteinander Umgehens im Zentrum. Das ist das Fundament, von dem aus wir Schule als Lebensort von Kindern und Jugendlichen betrachten.

„Wo findet Anerkennung und Wertschätzung statt – und wo nicht?“

Schule besteht ja nach wie vor vor allem aus Unterricht. Wenngleich es so viele andere Konzepte gibt – eine stärkere Projektorientierung etwa oder die Auflösung von Schulfächern. Darüber kann man auch mit den Kindern und Jugendlichen diskutieren und verhandeln; und die Kompetenzorientierung in den Bildungsplänen der Bundesländer ermöglicht das ja! Ich glaube, da könnten Lehrerinnen und Lehrer mehr Mut zeigen und Freiheiten, die da sind, kreativer nutzen – indem sie die Lebenswelten, die Interessen, die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler selbstverständlicher in die Gestaltung von Unterricht einbeziehen.

Kennen Sie so eine Schule?

Ja, die Robert Bosch Schule in Hildesheim, die ich im Rahmen der Werkstatt mit der Deutschen Schulakademie kennenlernen konnte, ist ein ganz wundervolles Beispiel. Die haben gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern ein transparentes Curriculum entwickelt und arbeiten systematisch und strukturiert Unterrichtsinhalte aus. Die Schule ist wirklich sehr engagiert, sie hat auch den Deutschen Schulpreis gewonnen und ist mit diesem demokratiepädagogischen Bezug auf der Mikroebene wirklich ein Leuchtturm. Wenn man so eine Schulkultur hat, kann man mit Schülerinnen und Schülern grundlegender über demokratische Teilhabe sprechen und sie nicht nur situativ partizipieren lassen.

Was zeichnet eine demokratische Schule aus? Welche Kriterien würden Sie anlegen?

Im Rahmen unseres Preises „DemokratieErleben“ haben wir Qualitätsstandards und Entwicklungsbereiche formuliert, die wir – sollten sie den empirischen Erfahrungen nicht standhalten – überprüfen und anpassen.

Partizipation, Inklusion, Diversität und Orientierung an Kinderrechten als zentrale Kriterien für eine demokratische Schulentwicklung

Als einen Qualitätsstandard haben wir die Partizipation definiert – im Sinne der Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Bereichen der Institution Schule. Dann die Inklusion, die wir als eine Schulkultur verstehen, die davon lebt, dass man „Vielfalt als Reichtum“ versteht, wie das im Motto einer Hamburger Schule formuliert wird.  Ein weiterer Qualitätsstandard ist die Diversität, also ein Thema im Unterricht aus ganz unterschiedlichen, aber gleichwertigen Perspektiven zu betrachten; Menschen nähern sich einem Thema ja mit unterschiedlichen Hintergründen, Bedingungen und lebensweltlichen Orientierungen an. Und natürlich müssen sich demokratische Schulen an den Kinderrechten orientieren. Das alles kann man für unterschiedliche Entwicklungsbereiche durchdeklinieren. Zum Beispiel: Was bedeuten diese Qualitätsstandards bei der Auswahl von Personal? Wer ist daran beteiligt, welche Lehrerinnen und Lehrer an einer Schule eingestellt werden?

Wann beschließen Schulen, explizit demokratische Schulen zu werden oder sich um den „DemokratieErleben“-Preis zu bewerben? Wenn sie ernsthafte Probleme in der Schülerschaft bemerken? Wenn sich einzelne Lehrer besonders engagieren?

Schulen fangen mit demokratieentwickelnden Maßnahmen an, wenn sie merken, dass sie nicht mehr funktionieren, sei es, dass niemand mehr seine Kinder anmelden will, dass es gesundheitliche Probleme unter den Schülerinnen und Schülern gibt, oder dass es menschenfeindliche  Aktivitäten innerhalb der Schülergesellschaft gibt. Es sind also wirkliche Krisen innerhalb der Schule, die Schulleitung und Kollegium nicht mehr „top down“ bewältigen können. Dabei handelt es sich nicht nur um Brennpunktschulen – im Gegenteil: Wir hatten in den letzten Jahren Kontakt zu einem Gymnasium, das ein Problem mit der gesundheitlichen Verfassung seiner Schülerinnen und Schüler hatte; der Leistungsdruck war wohl zu groß. Der Demokratisierungsprozess war mit dem Wunsch verbunden, dass es den Kindern und Jugendlichen psychosomatisch besser gehen sollte, sie weniger Bauchschmerzen haben sollten.

„Demokratisierung trägt dazu bei, die Vielfalt von Herausforderungen besser managen zu können – einfach, weil man die Verantwortung für eine Situation teilt.“

Der zweite Punkt ist das kulturelle Selbstverständnis einer Schule. Wenn sich eine Schule beispielsweise den Kinderrechten oder der Inklusion verpflichtet hat, ist sie sich im Klaren darüber, dass die Umsetzung dieser Werte eine immerwährende Herausforderung ist – Demokratisierung als permanenter Prozess. Das kulturelle Selbstverständnis ist also ein besonders normativer Anspruch – eine Schule nennt sich ja nicht umsonst nach einem nationalsozialistischen Widerstandskämpfer oder Nelson-Mandela-Schule. Ein dritter Punkt sind Schülerinnen und Schüler, die sagen: „Das ist nicht gut hier, wir wollen das ändern.“ Das haben wir mit einer Schule in Nordrhein-Westfalen erlebt, bei der die Schüler*innen-Vertretung in einem gut strukturierten Netz aus mehreren hundert Schülerinnen und Schülern agiert hat – quasi eine Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Schule. Wir wissen aus der Schulentwicklungsforschung, dass solche Aktivitäten „top down“ unterstützt  werden müssen, Schulleitungen für solche Entwicklungsprozesse also wichtig sind.

Demokratie und Bildung beim Deutschen Bildungsserver

Das Dossier Demokratie und Partizipation lernen und leben bietet strukturierte Hinweise auf Projekte, Initiativen und Materialien, die zeigen, wie Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen demokratische Grundsätze und Mitwirkungsmöglichkeiten vermittelt werden können und extremistischen und demokratiefeindlichen Haltungen vorgebeugt werden kann. Auch Internetquellen unter anderem zum Bundesprogramm „Demokratie leben!“ zur Demokratieförderung und Extremismusprävention sowie Informationen zum Thema Kinderrechte und Partizipation von Kindern, zur Demokratiebildung als Unterrichtsgegenstand in der Schule sowie zur politischen Bildung von Erwachsenen sind hier zu finden.

Hier die Kapitel im Einzelnen:

Sie haben eben auch Antisemitismus an der Schule als Anlass für eine demokratische Schulentwicklung genannt. Haben Sie dafür ein Beispiel?

Im letzten Durchgang zum Preis gab es die Bewerbung einer großstädtischen Schule, die unglaublich transparent und offenherzig dargestellt hat, dass sie ein Problem mit Antisemitismus hat – Schmierereien auf den Toiletten und solche Dinge. Das muss man erst mal bringen; die Jury hat das damals auch sehr gewürdigt! Diese Schule hat sich also auf den Weg gemacht und verschiedene interreligiöse Austauschformate fest in den Schulalltag etabliert; sie hat einen physischen Raum eingerichtet, in dem man sich mit Vertretern u.a. jüdischer, muslimischer und hinduistischer Religionsgemeinschaften treffen kann. Dann haben alle gemeinsam – Schülerinnen und Schüler, Verbindungslehrer und so weiter – beschlossen, einen Schüleraustausch mit Israel zu organisieren, um mit israelischen Jugendlichen gemeinsam ihr Großstadtleben zu entdecken. Nun fahren die ersten deutschen Jugendliche nach Israel.

Haben Sie so ein ermutigendes Beispiel auch für Schulen mit rechtsextremistischen Problemen?

Wir suchen! Ich würde mir wünschen, dass Schulen in Deutschland mit solchen Problemen, die es offensichtlich leider gibt, offensiver umgehen. Schlechte Noten zu geben oder Schulverweise auszusprechen, kann ja nicht der Weg sein, denn auch diesen Jugendlichen muss man andere Perspektiven anbieten. Das bleibt eine Daueraufgabe, gerade auch in Zeiten von Rechtspopulismus. Demokratische Schulentwicklung hat übrigens nie den Anspruch, Schulen zu unterstützen, die sowieso schon so einen pädagogischen Ansatz im Fokus haben. Wir suchen genau die Grundschule, die ein Problem mit rechtsextremen Eltern hat und sich fragt: Wie gehen wir damit um? Das ist ja die Idee hinter diesem noch relativ jungen Preis – genau solche Schulen zu unterstützen, zu empowern und zu vernetzen.

Was ist wichtig, wenn man Demokratische Bildung nachhaltig in Schulen verankern will?

Kontinuität ist ganz wichtig. Mit einem kurzfristigen Projekt ist demokratische Schulentwicklung nicht abgeschlossen. Deshalb sind Förderprogramme und eine wirklich systematische längerfristige Begleitung extrem wichtig, dafür braucht man Ressourcen. Dann habe ich die Hoffnung, dass „Leuchtturm“-Projekte eine größere Strahlkraft entwickeln. Und Vernetzung ist grundlegend. Wir brauchen Netzwerke von pädagogisch orientierten, engagierten Schulen wie „Blick über den Zaun“.

„Kontinuität, Netzwerke und Leuchtturm-Projekte sind für demokratische Schulentwicklung unabdingbar.“

Wir degede-Menschen versuchen auch die Vernetzung voranzubringen, weil wir in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen arbeiten. Beim Openion-Kongress letzten Herbst habe ich zum Beispiel eine von uns prämierte Schule vorgestellt. Dabei hatte ich mit Lehrern zu tun, die gar nicht glauben konnten, dass man Schule so gestalten kann: Schülerinnen und Schüler systematisch an internen Steuerungsgruppen der Schule beteiligen? Das geht nicht, das können die doch gar nicht. Doch können sie! Diese Schule gibt es schon seit 30 Jahren, und es funktioniert!

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Welniak!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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