„In Zeiten digitaler Transformation müssen sich Beschäftigte stärker als Subjekte des Wandels begreifen können“

Konzepte der Anpassungsqualifizierung allein reichen in der betrieblichen Weiterbildung nicht mehr aus

Was bewegt die Gewerkschaften (8)

INTERVIEW mit Welf Schröter, der 1991 das Forum Soziale Technikgestaltung beim Deutschen Gewerkschaftsbund, Bezirk Baden-Württemberg gegründet hat. Das offene und ehrenamtliche Netzwerk aus über 4200 Frauen und Männern begleitet und unterstützt seit mehr als 25 Jahren die Handelnden in den Arbeitswelten der Industrie, der Dienstleistungen, der Betriebe, des Handwerks und der Kommunen. Aktuelles Hauptthema des Netzwerks ist die Gestaltung digital-virtueller Arbeitsumgebungen und die Humanisierung der Arbeitswelt. Mit Welf Schröter sprachen wir darüber, wie Gewerkschaften mit der Digitalisierung der Arbeitswelten umgehen, welche Rahmenbedingungen dabei zu beachten sind und welche Möglichkeiten Betriebsräte und Beschäftigte haben, Arbeitswelt und Arbeitsprozesse so mitzugestalten, dass sie auch angesichts der neuen technologischen Anwendungen human bleiben.

Welf Schröter, Forum Soziale Technikgestaltung beim Deutschen Gewerkschaftsbund

Herr Schroeter, wie gehen Gewerkschaften mit der Digitalisierung der Arbeitswelt um?

In Gewerkschaften wird oft kontrovers diskutiert, was Digitalisierung der Arbeitswelt eigentlich meint: mobiles Arbeiten? Nutzung von Smartphones, Laptops oder elektronischen Lernumgebungen? Oder Teile des Internets der Dinge? Aber das alles gibt es schon längst – mobiles Arbeiten ist Stand der 90er Jahre! Diese Diskussionen zeigen eher, dass man sich in der Vergangenheit mit dem Thema nicht ausführlich befasst hat, sich also nicht gerade dort befindet, was man als „Front der Gestaltung“ bezeichnen könnte. Ungefähr drei Viertel der Technik-Implementierung, die wir im Augenblick in Betrieben, Dienstleistungszentren und Verwaltung haben, ist nachholende Digitalisierung.

„Im Schatten des Marketingbegriffs 4.0 werden Technologien eingekauft, die es am Markt schon lange gibt.“

Mit dem Begriff Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0, wie wir ihn innerhalb des Forums Soziale Technikgestaltung diskutieren, hat all das gar nichts zu tun. Es ist vielmehr eine Entwicklung, die ich „Digitalisierung hinter der Digitalisierung“ nenne.

Was meinen Sie mit „Digitalisierung hinter der Digitalisierung“?

Wir haben es mit Technologien zu tun – so genannte autonome Software-Systeme –, die in der Lage sind, einen Prozess so zu steuern, dass es aus Sicht der Anwender so aussieht, als ob das System selbst denken, lenken und handeln würde. Aber im Grunde ist es „nur“ brillante Mathematik oder brillante Informatik, denn diese Systeme basieren auf Daten und Programmierungen. Um mit dieser Technik umgehen zu können, benötigen Beschäftigte eine andere Tiefe von Bildung, denn sie sollten komplexere Prozesse zumindest der Orientierung nach verstehen. Permanent neue Konzepte für Anpassungsqualifizierungen zu entwickeln, reicht da nicht mehr aus. Eine Schlüsselherausforderung in der Bildungsdiskussion sehe ich also nicht so sehr in der Anpassung der Fertigkeit und Fähigkeiten an das jeweils neueste Muster, das gerade auf dem Display oder dem Bildschirm erscheint, sondern in der Frage: Bin ich als Mensch noch in der Lage, mich selbst im verändernden Arbeitsprozess als Teil dieser Arbeit zu erkennen?

Wie kann man solche abstrakten und komplexen Prozesse durchschauen lernen?

Die Kolleginnen und Kollegen in den Gewerkschaften setzen sich offensiv mit der Digitalisierung auseinander, und sie haben natürlich ein großes Interesse daran, Prozesse so zu gestalten, dass die Technologien zu einer Humanisierung der Arbeitswelt beitragen. Um das auch in Zeiten der digitalen Transformation leisten zu können, benötigen sie Gestaltungskompetenz. Also die Fähigkeit wichtige Informationen aufzunehmen und ihr Erfahrungswissen so zu verarbeiten, dass Arbeitswelt und Arbeitsprozesse auch angesichts der neuen technologischen Anwendungen human bleiben. Je nach Branche sind die Einstiege dabei natürlich unterschiedlich. Und auch die Mitbestimmung ist ein wichtiges Instrument, um bei der Einführung neuer Technologien kompetent mitzuarbeiten und klug zu kooperieren!

Und wie erwirbt man diese Gestaltungskompetenz?

Technologische Anwendungen können nicht nur dazu führen, dass unangenehme Routinetätigkeiten entfallen und Arbeitsprozesse erleichtert werden. Autonome Softwaresysteme führen auch dazu, dass Arbeitsprozesse in den virtuellen Raum geschoben und automatisiert werden. Wenn man die Arbeitsprozesse dann nicht inhaltlich anreichert, führt das zu einer Verringerung des Horizonts. Laut IAB liegt das Substitutionspotenzial der Tätigkeiten zwischen 15 und 20 Prozent. Die große Gestaltungsherausforderung für Betriebsräte und Gewerkschaften liegt also darin zu schauen, wie dieses schwindende Fünftel des Arbeitsinhalts so angereichert werden kann, dass wieder ein guter Arbeitsplatz draus wird.

„Die Zukunft der Arbeit wird im virtuellen Raum entschieden.“

Dazu brauchen wir ein anderes Prozessdenken. Denn die Veränderung der digitalen Konzepte, der Abläufe und Geschäftsmodelle führt dazu, dass Arbeitsinhalte und Lösungen eines Betriebs mehr und mehr zwischen Betrieb und Kunden, Betrieb und Lieferanten oder zwischen Betrieb und Betrieb realisiert werden. Es sollte also nicht so sehr die betriebsinterne, vertikale Wertschöpfungskette in den Blick genommen werden, sondern die horizontale. Um mitzugestalten und mitzubestimmen, brauchen wir also ein Denken entlang von Wertschöpfungsketten!

Was bedeuten diese Rahmenbedingungen für die Beschäftigten konkret?

Wenn Entscheidungsprozesse virtuell getroffen werden, und ich nicht durchschaue, wo und wann das genau passiert, bin ich nicht in der Lage zu entscheiden, an welcher Stelle ich intervenieren muss – ich schaue nur noch auf das Display und warte auf den nächsten Befehl. Ich muss mich also selbst in dem Arbeitsprozess verorten können; wenn das nicht gelingt, droht die Gefahr der Dequalifizierung. Beschäftigte müssen deshalb nicht nur über aktuelle Entwicklungen in der Branche und den technologischen Anwendungen informiert werden, auch das eigene Erfahrungswissen, die eigenen Kompetenzen, müssen in den Prozess eingebracht werden! Zurzeit erlebe ich aber, dass viele mit Führungsaufgaben betrauten Leute keine Orientierung vermitteln können und mit dem Wandel weitgehend überfordert sind – oder sich selbst überfordern und deshalb gar nicht mehr richtig kommunikationsfähig sind.

Erfahrungswissen und Kompetenzen der Beschäftigten: Wie kann man darauf zugreifen?

Gemeinsam mit dem Konzernbetriebsrat der GASAG AG haben wir auf der Grundlage eines komplett neuen Ansatzes eine Konzernbetriebsvereinbarung erarbeitet: Wir betrachten Transformationsprozesse als nach vorne offene Gestaltungsprozesse und versuchen so ein wechselseitiges transparentes Lernen, man könnte auch sagen: transparentes Fehlermachen und gemeinsames Auswerten, zu ermöglichen. Und weil man dazu die Kompetenzen und das Erfahrungswissen der Betriebsräte und Beschäftigten braucht, müssen sie auch stärker in die Gestaltung der Abläufe einbezogen werden – vielleicht sogar bis hinein in die Produktentwicklung. Das wiederum ist ein Schritt zu einer anderen Form von Führung, einer Führung, die weniger einzelne Prozessschritte durchleuchtet als vielmehr ergebnisorientiert ist. In der Konzernbetriebsvereinbarung haben wir das „agiles, kooperatives Changemanagement“ genannt. Geschäftsleitung, Betriebsrat und Belegschaft versuchen also ihre Erfahrungen in die Nachsteuerung aufzunehmen und ermöglichen damit, dass sich alle Beteiligten an ihren jeweiligen Positionen als Subjekte und nicht als Objekte des Wandels empfinden.

Ein fast idealistischer Ansatz, hinter dem ein „ganzheitliches“ Menschenbild steht. Ist das nicht zu anspruchsvoll?

Nach meiner Erfahrung denken und handeln viele Führungskräfte und Betriebsräte in solche Richtungen. Was bei der Umsetzung aber meist schiefgeht, ist die Steuerung, methodisch betrachtet: das Projektmanagement. Selbst wenn ein gutes Betriebsklima herrscht und beide Seiten sich gemeinsam dafür verantwortlich fühlen, dass das Unternehmen auch in fünf Jahren noch gut da steht, und auch die Geschäftsleitung den Wandel so gestalten will, dass kein Mensch dabei verloren geht, sind beide Partner auf den Prozess der Moderation, des Aushandelns und der Spezifizierung nicht vorbereitet. Auch Führungskräfte nicht; sie denken meist in zu kurzen Schritten. Und Betriebsräte sind oft mit den notwendigen alltäglichen Verteidigungen sozialer Standards ausgelastet.

„Auf die digitale Transformation kann man sich nicht mit den alten, starren Regelungen vorbereiten, sondern nur mit Flexibilität – auf beiden Seiten!“

Mit der Konzernbetriebsvereinbarung der GASAG wollen wir zeigen, dass der entsprechende Aushandlungsprozess funktionieren kann! Im Dezember 2018 haben wir unseren Ansatz übrigens bei der Arbeitsforschungstagung 2018 des BMBF im Stuttgarter Fraunhofer-Institut vorgestellt.

Was müssen Beschäftigte, Betriebsräte und Führungskräfte also lernen, um den Prozess mitzugestalten?

Wenn wir jetzt qualifizieren und Kompetenzen stärken wollen, dann geht es eigentlich um Rückgewinnung von Ganzheitlichkeit unter der Bedingung, dass die Komplexität steigt. Diese Spannung ist für viele sehr schwer auszuhalten. Deshalb brauchen wir Ermutigung! Auf Seiten der Führung, dass sie ein transparentes Experimentieren auf gleicher Augenhöhe wagt. Und auf Seiten der Betriebsräte den Mut, auf diesem hohem Niveau mitzudiskutieren. Denn letztlich wird auf diese Art und Weise entschieden, wie die Zukunft des Betriebs, der Jobs und der Belegschaft aussieht.

„Im Zusammenhang mit digitaler Transformation ist Ermutigung einer der wichtigsten Begriffe – übrigens auf beiden Seiten!“

Meine Betriebsratskollegen versuche ich zu ermuntern, die Fähigkeit zu vorausschauender Arbeitsgestaltung zu erwerben. Es wird künftig nicht mehr ausreichen, Standards und Bedingungen in Betriebs-Dienstvereinbarungen zu hinterlegen, wir müssen Technikgestaltungsprozesse einleiten und umsetzen, bevor die Technik in die Anwendung geht. Wir brauchen also die Verankerung der sozialen Standards und Spielregeln im Algorithmus selbst. Unser jüngstes Projekt heißt deshalb auch der „selbstbestimmte Algorithmus“.

Betriebsräte sollen also lernen, den Algorithmus, der die Softwaresysteme steuert, selbst mitzugestalten?

Ja! Wir haben einen Prototypen für ein Planspiel entwickelt, das wir als Qualifizierungsbaustein in die Betriebsratsarbeit einfügen wollen. Mit BABBSY – Betriebsratsarbeit auf Basis autonomer Softwaresysteme tun wir so, als ob eine bestimmte autonome Software nicht Objekt von Mitbestimmung ist, sondern ein Instrument, das Umsetzung von Mitbestimmung ermöglicht. Nach einer Erprobungsphase im Frühjahr wollen wir daraus einen Qualifizierungsbaustein entwickeln, der Betriebsräte für die hochkomplexen Arbeitsprozesse und die neu entstehenden horizontalen Wertschöpfungsketten sensibilisiert. Denn Betriebsräte müssen in Zukunft Anforderungen so formulieren können, dass sie in den für die Erarbeitung eines Algorithmus notwendigen Spezifizierungsprozess eingebracht werden können.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schröter!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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