Interlinking Pictura – Citizen Science für bildungshistorisch Interessierte
Unter Citizen Science, deutsch auch Bürgerwissenschaft, versteht man eine Form der Offenen Wissenschaft, bei der Projekte mit oder komplett von interessierten Laien durchgeführt werden. Sie melden Beobachtungen, führen Messungen durch oder werten Daten aus. Im Falle der Interlinking Pictura, einer am DIPF entwickelten virtuellen Forschungsumgebung auf Wiki-Basis, bedeutet das historische Bilder mit weitergehenden Informationen aus dem World Wide Web anzureichern. Als Pilotprojekt wurden Bilder aus dem „Bilderbuch für Kinder“ von Friedrich Justin Bertuch, einem von 1790 bis 1830 entstandenen Lehr- und Sachbuch ausgewählt, die im Bildarchiv Pictura Paedagogica Online der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung digitalisiert und inhaltlich erschlossen zur Verfügung stehen.
GESPRÄCH mit der Leiterin des Projekts Dr. Stefanie Kollmann von der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, die die inhaltlichen Arbeiten an Interlinking Pictura koordiniert hat, und Julian Hocker, der sich als Doktorand der Informationswissenschaft am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation den technischen Arbeiten gewidmet hat.
Frau Kollmann, was hat es mit der Plattform „Interlinking Pictura“ auf sich?
Interlinking Pictura ist eine virtuelle Forschungsumgebung, die auf einem Semantic Media Wiki beruht. Die Idee dazu ist im Zuge unserer Überlegungen entstanden, unsere Bilddatenbank Pictura Paedagogica Online für die Wissenschaft attraktiver zu gestalten – wir wollten Forscherinnen und Forschern ermöglichen, einfacher und schneller mit ihrem Bestand an historischen Bilder zu arbeiten. Dafür haben wir die bereits entwickelte Semantic CorA-Umgebung so angepasst, dass man darin nicht nur mit Texten, sondern auch mit Bildern arbeiten kann. Unser Ziel war es, einen ausgewählten Bestand im Internet semantisch so darzustellen, dass über die Verknüpfung mit anderen Web-Angeboten neue Erkenntnisse möglich werden. Weil es in diesem Themenfeld aber noch keine Forschungsgruppe gibt – die historische Bildungsforschung ist eine recht kleine Disziplin – haben wir uns dafür entschieden, die Plattform gleichzeitig als Citizen Science-Projekt für interessierte Bürger aufzusetzen.
Eine virtuelle Forschungsumgebung auf Basis der Semantic Wiki-Technologie
Interlinking Pictura entstand von April 2016 bis November 2017 als Pilotprojekt im Rahmen des Centrums für Digitale Forschung in den Geistes-, Sozial- und Bildungswissenschaften (CEDIFOR), einem von der Goethe-Universität Frankfurt, dem DIPF| Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und der TU Darmstadt gegründeten Zentrum im Bereich der Digital Humanities. Am Projekt selbst waren zwei Abteilungen des DIPF beteiligt: das Informationszentrum Bildung und die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin. Interlinking Pictura ist eine von mehreren Modifikationen der virtuellen Forschungsumgebung Semantic CorA, die auf der Semantic-Wiki-Technologie basiert.
Und wie sind Sie auf Bertuchs Bilderbuch gekommen, diesen Bildbestand aus dem späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert?
Bei Bertuchs Bilderbuch handelt es sich um ein zwölfbändiges Sammelwerk mit sorgfältig gestalteten Tafeln, die möglichst exotische Themen aus der Tier- und Pflanzenwelt, interessante Erfindungen, fremde Länder und Völker behandeln. Friedrich Justin Bertuch brachte sie in zeitlichen Abständen als kleine Hefte mit einer Auswahl von jeweils fünf thematisch durchmischten Bildtafeln auf den Markt. Für unsere Zwecke ist es vor allem deshalb gut geeignet, weil die Bildtafeln richtig schön anzusehen sind und weil man – sobald die zwölf Sammelbände vor einem liegen – sofort anfangen möchte, die Tafeln nach Themen zu sortieren und die verschiedenen Querverweise digital zu erschließen (lacht). Und da man das Buch ja nicht auseinanderschneiden will, haben wir beschlossen ein Pilotprojekt daraus zu machen und einen Teil der Bildtafeln, 1.180 um genau zu sein, für die virtuelle Arbeitsumgebung aufzubereiten – also Vorbilder zu finden, zu verlinken und zu taggen.
Was kann ich als interessierte Bürgerin mit diesen Bildtafeln denn alles machen?
Wir schlagen konkrete Aufgaben vor: Bildungshistorisch Interessierte, die des Italienischen oder Französischen mächtig sind, können zum Beispiel die automatisch ausgelesenen Beschreibungstexte von Bildtafeln korrigieren und so die internationale Öffnung und Zusammenarbeit voranbringen. Geographisch Interessierte können die Darstellungen auf den Bildtafeln mit Geodaten aus dem Wikidata-Projekt von Wikipedia verknüpfen. Bei entsprechender Datenmenge könnte man dann untersuchen, ob die Darstellungen überwiegend aus Südamerika, aus Asien oder aus Ozeanien stammen, und so einen Eindruck von der Weltsicht in dieser Zeit gewinnen – oder zumindest der von Bertuch.
„Interlinking Pictura bietet sehr vielfältige Aufgaben, für deren Bearbeitung könnten wir jede Menge engagierter „Citizens“ brauchen!“
Eine wieder andere Aufgabe ist es, Abbildungen zu recherchieren – zum einen die Vorbilder, auf die sich Bertuch selbst bezieht, und zum anderen aber auch eventuelle Nachfolger, deren Vorlage Bertuchs Bilderbuch war. Da mittlerweile auch viele historische Abbildungen online sind, beispielsweise auch bei Wikipedia, geht das über eine einfache Google-Recherche. Und man wird wirklich erstaunlich oft fündig! Im Rahmen eines informationswissenschaftlichen Seminars hat mein Kollege Julian Hocker Studierende mal recherchieren lassen.
Herr Hocker, eignet sich die Plattform auch gut für die Lehre?
Ich habe Interlinking Pictura jetzt schon zum zweiten Mal im Rahmen des Masterstudiums Informationswissenschaft an der Hochschule Darmstadt eingesetzt. Um eine Situation oder einen Sachverhalt gut erklären zu können, benötigt man als Dozent öfters Beispiele oder Plattformen um Usability zu testen oder informationswissenschaftliche Fragestellungen zu illustrieren. Mein Anliegen ist es darüber hinaus, angehenden Informationswissenschaftlern berufliche Einsatzfelder näher zu bringen, da gehören Digital Humanities auf jeden Fall dazu! Und über die Arbeit mit Interlinking Pictura lernen sie mögliche Forschungsgegenstände und Arbeitsweisen der Geisteswissenschaften kennen.
„Die Idee war der Historischen Bildungsforschung einen digitalen Raum zu geben, in dem Bilder hochgeladen und gemeinsam bearbeitet werden können.“
Die Forschungsumgebung mit den Bertuchschen Bildtafeln eignet sich aber auch für viele andere Forschungsfragestellungen, zum Beispiel, wie in einem lexikonartigen Sachbuch im 17./18. Jahrhundert fremde Völker dargestellt wurden, im Bestand finden sich dazu nämlich recht viele Darstellungen. Man kann einfach eine neue Wiki-Seite anlegen und entlang einer Fragestellung Bilder recherchieren und bearbeiten – das ist ja das Tolle an der Semantic-Wiki-Technologie und an unserem Projekt!
Die auf Semantic Media Wiki basierende Technologie ist wie geschaffen für Citizen Science, weil sie wirkliche Partizipation an Forschungsprozessen ermöglicht!
Bei den meisten Citizen-Science-Projekten liegt die Fleißarbeit des Wissen- und Faktensammelns bei den Bürgerinnen und Bürgern, während der interessante Teil der Auswertung von Wissenschaftlern in irgendwelchen Forschungszentren übernommen wird. Das ist bei uns ganz anders! Wer sich für historische Darstellungen von Weltwissen interessiert, kann sich eigene Fragstellungen überlegen und sofort mit der Recherche beginnen.
Können Sie sich noch andere Anwendungssituationen vorstellen, Frau Kollmann?
In der Tat! Kern unseres Angebots ist – wie der Name Interlinking Pictura ja schon sagt – das Verknüpfen von Bildern. Leute, die mit Bildbeständen arbeiten, können die Plattform als Notizbuch verwenden, übrigens auch Wissenschaftlerinnen anderer Disziplinen: Für das Hochladen einer Bilderauswahl gibt es eine eigene Funktion – anklicken, hochladen und Notizen dazu machen; man kann seiner bestehenden Sammlung einfach mit einem Link ein neues Bild hinzufügen. Alles ohne umständliches Ausfüllen von Formularen! Vor allem für Forschende, die sich Open Science-Prinzipien verpflichtet fühlen, ist es ein tolles Tool, weil Bilder und die damit verknüpften Informationen mit dem Hochladen auch gleich publiziert sind.
Herr Hocker, wir haben vorher davon gesprochen, dass man die Bilder in Interlinking Pictura mit Wissen anreichern kann. Was ist damit genau gemeint?
Im Internet vernetzt man Wissen normalerweise, indem man von einer Website zur anderen einen Link setzt. Weil auf einer Seite aber sehr unterschiedliche Informationen versammelt sein können, ist der einfache Linkverweis meist nicht spezifisch genug. Da kommen dann die Konzepte von Linked Open Data und Semantic Web ins Spiel: Linked Open Data sind im World Wide Web frei verfügbare Daten, die über eine einheitliche Bezeichnung, einen so genannten Uniform Resource Identifier (URI), identifiziert sind, darüber direkt abgerufen werden können und ebenfalls per URI auf andere Daten verweisen. Das Semantic Web erweitert das Internet so, dass Daten zwischen Rechnern einfacher ausgetauscht werden können und auch einfacher verwertbar sind. Nehmen wir als Beispiel den Begriff „Berlin“. In einem Webdokument muss der Begriff um die explizite Information ergänzt werden, dass es sich um eine Stadt – und nicht etwa um den Namen einer Familie – handelt, dass sie geographisch in Deutschland verortet ist und dass sie die politische Funktion einer Hauptstadt hat. Das sind schon drei Informationen, die Menschen normalerweise aus dem gegebenen Kontext schließen können, für Maschinen muss man sie aber explizit auseinanderdröseln. Solche semantischen Verknüpfungen können zu völlig neuen wissenschaftlichen Fragestellungen führen.
Und wie lässt sich das auf Bertuchs Bilderbuch anwenden, Frau Kollmann?
Na ja, man kann über semantische Links viel komplexere Verknüpfungen herstellen und damit auch viel differenziertere Abfragen im Bestand ermöglichen. Bei Bertuch steht bei „Elefant“ beispielsweise, dass er in Indien lebt. Über einen semantischen Link kann man das so darstellen: Elefant -> lebt in -> Indien. Eine weitere Information – zum Beispiel, dass Indien in Asien liegt – ermöglicht es uns folgende Relation zu sehen: Elefant -> lebt in -> Asien. Solche annotierten Daten erlauben uns dann herauszufinden, wo geographische Vorlieben von Bertuch lagen oder welche geographische Regionen im Fokus standen. Es handelt sich also um sehr komplexe logische Verknüpfungen, und um sich nicht in einem Wust von Informationen zu verlieren, muss man schon vorher genau durchdacht haben, worauf man hinaus will. Im Grunde beginnt hier schon das Feld der Domänenmodellierung, das für Anwendungen der Künstlichen Intelligenz so zentral ist. Im Moment arbeite ich an exemplarischen Seiten, um aufzuzeigen, welche Informationen wie eingegeben werden, um solche Verknüpfungen herstellen zu können.
Herr Hocker, wie sind Sie mit dem Angebot zufrieden?
Wir sind seit einem Jahr mit Interlinking online und natürlich sehen wir rückblickend einiges, das nutzerfreundlicher sein könnte. Die Navigation ist zum Beispiel ein bisschen schwerfällig, das liegt an dem großen Datenbestand: Er umfasst insgesamt 1.180 Tafeln, auf denen im Schnitt jeweils drei Bilder zu sehen sind; technisch war das nicht einfach zu erschließen. Wir würden das Angebot jetzt gerne weiterentwickeln und eine verbesserte Version aufsetzen, aber die Projektförderphase ist zu Ende und – wer kennt das nicht – die Ressourcen gehen jetzt woanders hin.
Wie schätzen Sie die Resonanz auf das Angebot ein, Frau Kollmann?
Wir richten uns an einen überschaubaren Kreis von Leuten, die sich privat für bildungsgeschichtliche Fragen interessieren und bereits über fachliches Wissen verfügen. Wir wissen, dass es sie gibt, aber bis jetzt ist Interlinking kein Selbstläufer – unsere Plattform ist einfach noch nicht bekannt genug. Vielleicht liegt es daran, dass wir anfangs nicht an ein Citizen-Science-Projekt gedacht haben, sondern uns zunächst an Interessen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern orientiert haben.
„Wir würden uns eine größere Beteiligung wünschen.“
Wir haben Nutzer, aber es dürften gerne mehr sein. Und ich arbeite weiter daran, Kooperationspartner für die gemeinsame Bearbeitung von historischen Bildbeständen zu gewinnen. Zurzeit bin ich mit Schulmuseen aus Dänemark, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden im Gespräch zu einem gemeinsamen Projekt – und ich würde mich freuen, wenn es in diesem Jahr noch konkretere Formen annehmen würde.
Vielen Dank für das Gespräch, Stefanie Kollmann und Julian Hocker!
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver
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