Mit Open-Science-Praktiken wissenschaftliches Arbeiten lernen
Open Educational Resources mal in einem anderen Zusammenhang – im Hochschulstudium nämlich. Lehramtsstudierende erarbeiteten in einem Linguistik-Seminar wissenschaftliche Poster und Unterrichtsmaterialien und machten sich dadurch gleichzeitig mit Open-Science-Praktiken vertraut.
INTERVIEW mit Dr. Naomi Truan, die als Stipendiatin des Wikiversity-Fellow-Programms „Freies Wissen“ 2020/2021 ein Seminar zu „Digitalen Schreibpraktiken“ am Institut für Germanistik der Universität Leipzig gegeben hat. Dabei sollten 40 Lehramtsstudierende wissenschaftliche Poster sowie Unterrichtsmaterialien zum Thema erarbeiten und für die Schulpraxis als Open Educational Resources bereitstellen. Die Seminarinhalte selbst wurden mit Open-Science-Praktiken erarbeitet. Für Truan ist das „Forschende Lernen“ ein wichtiger Aspekt, um gemeinsam mit Studierenden den Forschungsprozess selbst zu thematisieren und sie für Open Science zu sensibilisieren. Wir sprechen mit ihr über Ablauf und Inhalt des Seminars, den Arbeitsaufwand – sie hat es übrigens zwei Mal angeboten – und fragen, ob es ihr gelungen ist, dieses komplexe Thema in einem Seminar zu integrieren.
Frau Truan, Sie haben in einem Linguistik-Seminar zum Thema digitale Kommunikation Studierende wissenschaftliche Poster sowie Open Educational Resources erstellen lassen und sie damit gleichzeitig in die Praktiken von Open Science eingeführt. Wie können wir uns das vorstellen?
In dem Seminar ging es darum, Sprachmaterial aus den eigenen Chats und E-Mails der 40 Teilnehmenden zu erheben und sie sprachwissenschaftlich zu analysieren; die Studierenden sollten also verschiedene Arbeitshypothesen testen und sie dann entweder verifizieren oder widerlegen. Zentral war dabei, dass in Gruppen zusammengearbeitet wird und die Ergebnisse auf einem wissenschaftlichen Poster vorgestellt werden.
Die Studierenden mussten ihre Ergebnisse – Schemata und Tabellen, qualitative Analysen – auf einem Poster visualisiert präsentieren.
Das Seminar selbst war in drei Blöcke gegliedert: In Block 1 haben wir uns die Grundlagen zur digitalen Kommunikation erarbeitet und die Seminaraufgabe besprochen, dazu habe ich meine Lehrmaterialien als Open Educational Resources konzipiert und für die Studierenden über ein Padlet zur Verfügung gestellt. In Block 2 wurde das Poster erarbeitet und in Block 3 ging es um die Entwicklung eines Unterrichtskonzepts, also quasi um den Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Seminar in die Schulpraxis. Zwischen dem Erstellen der Poster und dem Erarbeiten des Unterrichtskonzepts gab es eine kurze asynchrone Lehreinheit, in der die Studierenden entscheiden sollten, ob sie das erarbeitete Poster und das noch zu entwickelnde Unterrichtskonzept für Lehrende, Studierende oder auch Schüler*innen im Open Access zur Verfügung stellen würden. Diejenigen Gruppen, die mit ihren Postern sehr zufrieden waren – und das waren die meisten – haben sich für eine Open-Access-Veröffentlichung entschieden. Beim Unterrichtskonzept fiel die Entscheidung ein bisschen gemischter aus, wahrscheinlich weil das Konzept zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erarbeitet war.
Wie sind die Studierenden mit dieser Konzeption und Aufgabenstellung klar gekommen?
Der Kurs fand Corona-bedingt ja digital statt, die Studierenden haben also deutlich selbstständiger arbeiten können. Mitten im Wintersemester 2020/2021 gab es eine von der Universitätsleitung eingeführten vierwöchige Pause – also keine Online-Sitzungen, keine neuen Inhalte, keine neu produzierten Videos. Außer den schon anfangs ausgegebenen Materialien gab es einfach nichts – abgesehen natürlich von meiner Sprechstunde und der Möglichkeit mich per Mail zu kontaktieren. Die Studierenden konnten ihre Zeit wirklich organisieren, wie sie wollten, und viele haben diese Autonomie geschätzt.
„Die Studierenden konnten nicht anders als von vornherein kollaborativ zu arbeiten.“
Den Arbeitsprozess habe ich eigens so konzipiert, dass man unmöglich alleine klarkommen konnte – die zu erhebende und auszuwertende Datenmenge war für eine Person einfach zu groß. Deshalb konnten sie nicht anders als von vornherein kollaborativ zu arbeiten. Für meine Lehrmaterialien bedeutete das, jeden Schritt detailliert zu planen: Zum Beispiel Vorgaben machen, dass man für einen bestimmten Schritt mindestens zwei Stunden braucht, oder Hinweise platzieren, wann sie alleine und nicht unbedingt in der Gruppe arbeiten können, wann sie selbstständig entscheiden können, oder auch wann ein gemeinsames Treffen wieder notwendig ist. Man funktioniert während der gesamten Seminarphase nur als Gruppe. Meine Idee dabei war, die Studierenden unmittelbar erfahren zu lassen, dass die Offenheit gegenüber Open Science größer wird, wenn Gruppenarbeit die einzige Möglichkeit ist, ein Poster zu erarbeiten.
Es ging Ihnen also darum, Open-Science-Praktiken im Learning-by-doing-Verfahren zu vermitteln.
Ja, das Seminar war grundsätzlich nach dem Prinzip des forschenden Lernens konzipiert. Mir war es wichtig, dass die Studierenden lernen gemeinsam zu forschen, eine Veröffentlichung sollte nicht zwangsläufig erfolgen; darauf habe ich auch keinen Druck ausgeübt. Meine Idee war es, Studierende mit kollaborativer Zusammenarbeit vertraut zu machen und ihnen aufzuzeigen, dass es mit Open-Science-Verfahren auch weniger Hürden bei der Veröffentlichung gibt. Denn wenn man Inhalte zusammen erarbeitet, ist man auch gemeinsam dafür verantwortlich – eine Art von Peer Review innerhalb der Gruppe. Streng genommen war es allerdings kein kompletter Open-Science-Ansatz, weil es nur um die Poster ging und nicht um den Prozess ihrer Erarbeitung. Ich habe zwar meinen Kriterienkatalog zur Bewertung im Open Access verfügbar gemacht, aber nicht meine Bewertung und auch nicht die Note. Ich glaube, dass es für Studierende zu viel auf einmal gewesen wäre.
Zeigen, dass es mit Open-Science-Verfahren auch weniger Hürden bei einer Open-Access-Veröffentlichung gibt.
Wie haben Ihre Kolleginnen darauf reagiert?
Das war ganz spannend! Ich würde sagen, dass das Projekt sehr gut angekommen ist; es hat für neue Ideen für die eigenen Seminare gesorgt – und es war ein guter Katalysator für Gespräche über Open Science. In der Germanistik ist es nämlich noch nicht so üblich, seine Publikationen, auch Preprints, im Open Access zu veröffentlichen. Meine Forschungsdaten, annotierte Korpora, hatte ich aber schon während meiner Dissertation Open Access publiziert. Und ich wollte einfach zeigen, dass man kein komplettes Seminar zum Thema Open Science anbieten muss, sondern dass auch ein Moment des Verstehens ausreichen kann. Dabei halte ich den Ansatz, Studierende immer wieder damit zu konfrontieren für sehr wichtig. Ich hab das Seminar zweimal angeboten, und jedes Mal gab es Studierende, die gesagt haben, dass sie den Open-Science-Ansatz bereits bei einer Dozentin im Fach Geschichte kennengelernt hätten, ihn spannend fanden und deshalb auch weiter verfolgen wollen. Und mein Eindruck war, dass diese Studierenden darauf achten, dass ihr Beitrag gut wird und den Ansprüchen von Open Science genügt. Das heißt: Die Hürden sich auf Open Science einzulassen, sind deutlich geringer, wenn ihnen der Grundgedanke bereits begegnet ist.
Eine Auseinandersetzung mit Open-Science-Praktiken kann man auch „nebenbei“ betreiben.
Sind Sie während des Seminars auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen?
Eine Sache, an die ich zu wenig gedacht hatte, war die Frage der Anonymisierung. Ich habe den Studierenden angeboten, ihre Poster entweder unter Angabe ihres Namens oder aber anonymisiert zu veröffentlichen – beispielsweise Gruppe A des Seminars bei Naomi Truan. Da gab es starke Trends, die ich mir nur mit Gruppendynamiken erklären kann. Während in einem Seminar viele zu einer anonymen Veröffentlichung neigten, sprachen sich die Teilnehmenden im anderen Seminar zwar grundsätzlich auch für eine Anonymisierung aus, aber sie waren bereit ihre Haltung für das Poster und das Unterrichtskonzept zu ändern, einfach weil es dem Open-Science-Prinzip mehr entspricht. Wenn man also die Einstellungen zu Open Science erforschen möchte, ist die gegenseitige Beeinflussung innerhalb der Gruppe ein wichtiger Aspekt.
Würden Sie das Seminar wieder anbieten?
Einerseits hatte ich den Anspruch, zu zeigen, dass man Open-Science-Praktiken auch auf Seminarebene „nebenbei“ vermitteln kann. Andererseits war es für mich extrem viel Arbeit; ohne studentische Hilfskraft ist das kaum zu schaffen. Die Materialien sind zwar schon erstellt, aber ich müsste jedes Semester aufs Neue Datenschutzerklärungen von jedem einzelnen Teilnehmenden unterschreiben lassen; dann kommt noch die intensive Betreuung von in der Regel acht bis zehn Gruppenarbeiten dazu. Und wenn ich will, dass die Studierenden ihre Poster auch wirklich veröffentlichen, müsste ich eine Feedback-Runde mehr einplanen – da braucht man einfach mehr Zeit! Im Grunde müsste so ein Open-Science-Seminar über zwei Semester laufen, denn die Studierenden sollten die Möglichkeit haben, ihre Poster nach dem Feedback auch zu überarbeiten; das ist in der Studienordnung aber nicht vorgesehen. Alles in allem ist es schon sehr ehrgeizig innerhalb von zehn Wochen wissenschaftlich fundiert ein Poster und ein Unterrichtskonzept erarbeiten zu lassen – und das auch noch nach Open-Science-Prinzipien. Es wäre zwar schön, dieses Seminar regelmäßig anzubieten, aber in der Form ist es doch für eine Dozentin noch sehr viel Arbeit.
Ist das nicht ein grundsätzliches Problem von Open Science – die Mehrarbeit?
In der Open-Science-Community ist ja oft die Rede von Infrastrukturen, die man benötigt. Dem kann ich nur zustimmen! Personal ist aber genauso wichtig. Um das Seminar regelmäßig anzubieten, bräuchte ich zwei Jahre lang eine studentische Hilfskraft, also jemanden, der mich wirklich die ganze Zeit begleitet. Dazu kommt, dass es als Lehrende nochmal schwieriger ist, die Poster der Studierenden zu veröffentlichen – denn Open Science bedeutet nicht automatisch Qualitätskontrolle. Die Poster vom Wintersemester zum Beispiel sind zwar im Padlet vorhanden, auf Peer-Review-Plattformen veröffentlicht habe ich sie aber noch nicht. Denn wenn sie dort nicht durchgelassen werden und die Studierenden das ein halbes Jahr später erfahren, ist das schon blöd. Ich fand es schwieriger als ursprünglich gedacht!
Open Science benötigt andere personelle und zeitliche Infrastrukturen.
Aber ist das nicht auch ein Postulat von Open-Science-Praktiken, dass sie die Qualität wissenschaftlicher Arbeit erhöhen würden?
Also, es wird häufig gesagt, dass mit Open-Science-Praktiken die Qualität erst im Nachhinein überprüft wird. Denn bei den Preprints zum Beispiel, also Fachartikeln, die noch nicht veröffentlicht, sondern noch im Begutachtungsprozess sind, ist es Aufgabe der Community zu überprüfen, ob die Arbeit den fachwissenschaftlichen Kriterien genügt und auch gut ist. Ich würde das mit den Arbeiten der Studierenden auch gerne so machen. Gleichzeitig will ich aber nicht, dass sie in ein paar Jahren Probleme bekommen, weil die im Open Access veröffentlichten Ergebnisse dann nicht mehr ihren Standards entsprechen – und sie sich dadurch angreifbar machen.
Wie ist Ihr Fazit?
Gemischt. Selbst wenn ich zeigen konnte, dass man für eine Einführung in Open-Science-Praktiken nur eine Sitzung braucht, und ich dazu selbstverständlich und gerne mein Handout dazu weitergebe, denke ich nicht, dass Kolleginnen und Kollegen, die Open Science selbst nicht praktizieren, das sofort in ihre Seminare integrieren würden. Tatsächlich braucht man in seinen Seminaren auch Zeit für das zu vermittelnde Fachwissen und die sprachwissenschaftlichen Inhalte, die man gerne mit den Studierenden diskutieren möchte. Aber ich bin dennoch überzeugt, dass man die Idee des Open Science immer wieder thematisieren und nicht über Linguistik, sondern auch über den Forschungsprozess allgemein sprechen sollte. Ich glaube nämlich nicht, dass sich Studierende in drei oder vier Jahren noch im Detail an sprachwissenschaftliche Erkenntnisse erinnern werden, eher an die Zusammenarbeit im Open-Science-Prozess. Und mir ist es wichtig, dass sie etwas für ihre Berufspraxis mitnehmen können.
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