Es geht um die Anschlussfähigkeit von Wissen innerhalb und außerhalb der wissenschaftlichen Community

Open Science und Wissenschaftskommunikation   

„Wir tun so, als ob der wissenschaftliche Zeitschriftenartikel das einzige Medium ist, das Wissen enthalten und erzeugen kann“

INTERVIEW mit Benedikt Fecher, Forschungsprogrammleiter „Wissen & Gesellschaft“ am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, das Themen im Schnittfeld von Wissenschaft und Digitalisierung sowie Bildung und Digitalisierung behandelt. Fecher ist aktives Mitglied in der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Implikationen der Digitalisierung für die Qualität der Wissenschaftskommunikation“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber des Blogjournals „Elephant in the lab“, das sich kritisch mit dem Wissenschaftssystem auseinandersetzt. Außerdem initiierte er die „Impact School: Science Transfer in the 21st century“ für Nachwuchsforschende. Wir haben mit ihm über die Messung wissenschaftlichen Erfolgs gesprochen und darüber, welche Aussagekraft die dabei verwendeten Metriken in Zeiten der Digitalisierung haben.

Herr Fecher, der Impact-Faktor gibt normalerweise Auskunft darüber, wie oft die Artikel einer bestimmten Zeitschrift in anderen Publikationen zitiert werden. Sagt er auch etwas über die wissenschaftliche Leistung aus? 

Eigentlich nicht! Es gibt zwei Metriken, mit denen der „Standard“-Wissenschaftler hantiert: Der Impact Factor und der h-Index. Der Impact-Faktor spiegelt die jährliche Durchschnittszahl der Zitierungen wider, die in den letzten zwei Jahren in einer bestimmten Zeitschrift veröffentlichte Artikel erhielten. Eine Fachzeitschrift hat also einen Impact-Faktor 5, wenn die Artikel, die darin veröffentlicht werden, in diesem Zeitraum im Schnitt fünfmal zitiert wurden. Wenn also ein Artikel eines Heftes 200 Mal zitiert wird, ein anderer Artikel 20 Mal und die anderen gar nicht, wird daraus das Mittel für das Heft insgesamt und daraus der Durchschnitt für jeden darin veröffentlichten Artikel errechnet. Das ist eine sehr gute Metrik um die relative Bedeutung von Zeitschriften darzustellen – aber nicht von einzelnen Artikeln. Das Problem ist, dass das Wissenschaftssystem den Impact-Faktor zu einem Maß für den Wert wissenschaftlicher Arbeit umgedeutet hat. Auch der h-Index basiert auf bibliometrischen Maßen, er bezieht sich auf Zitationen der Publikationen einer Wissenschaftlerin. Ein hoher h-Index ergibt sich, wenn eine erhebliche Anzahl von Publikationen der Wissenschaftlerin häufig in anderen Veröffentlichungen zitiert ist. Beide Metriken sind im Grunde nichts anderes als eine Annäherung an eine innerwissenschaftliche Wirkung, denn es geht um die Anschlussfähigkeit von Wissen innerhalb der wissenschaftlichen Community. Und diese Anschlussfähigkeit wird über Zitate in Artikeln gemessen. 

„Diese Reduktion auf ein Format ist im Grunde eine Form der Komplexitätsvermeidung, weil wir die Vielfalt des Digitalen nicht nutzen.“

Ich glaube, wir brauchen ein erweitertes Verständnis von Impact, eines mit dem man die Anschlussfähigkeit besser abbilden kann – und das sowohl in der innerwissenschaftlichen wie in der wissenschaftsexternen Kommunikation. Wir tun so, als wäre der Artikel das einzige Medium, das Wissen enthalten kann – auch weil sich fast alle wissenschaftlichen Disziplinen darauf verständigt haben. Aber natürlich gibt es auch noch andere Medien und Formate wie Daten, Codes von Software oder Videos, die Wissen tragen können, aber weniger genutzt werden, weil in der wissenschaftlichen Wertigkeit eben nur Artikel Bedeutung haben. 

Was ist der Impact-Faktor?

Der Impact-Faktor ist eine errechnete Zahl, deren Höhe den Einfluss einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift wiedergibt. Er dient zum bibliometrischen Vergleich verschiedener Zeitschriften. Der Impact-Faktor ist kein Maß für die Qualität der Artikel einer Zeitschrift, sondern gibt Auskunft darüber, wie oft die Artikel einer bestimmten Zeitschrift in anderen Publikationen zitiert werden.

Sie plädieren für mehr Komplexität in der Messung des wissenschaftlichen Erfolgs. Wie sollte ein Impact also ihrer Ansicht nach beschaffen sein? 

Man muss die unterschiedlichen Praktiken der innerwissenschaftlichen Wissensgenese und der Wissenschaftskommunikation ernst nehmen, also ihre Heterogenität und Diversität wahrnehmen und anerkennen – auch in der Messung des Impacts. Deshalb muss man auf unterschiedliche Methoden und Outputs zurückgreifen, um Impact zu messen – und eben nicht nur Zitate zählen. Und vor allen Dingen müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass nicht alles, was zählbar ist, wirklich was zählt und nicht alles, was zählt, wirklich zählbar ist.

Können Sie das konkreter machen?

Ich glaube, dass man sich den ganzen Strauß an unterschiedlichen Evaluationen und Methoden, an relevanten Outputs und Praktiken bewusst machen muss, um sie an den jeweiligen Gegenstandsbereich anzupassen. Evaluieren wir einzelne Forschende oder einzelne Outputs? Eine Einrichtung oder ein Wissenschaftssystem? Und mit welchem Ziel evaluieren wir? Erst wenn man das klarer definiert hat, kann man spezifische Standards dafür entwickeln, welche Wirkung Maßnahmen haben können. Um zum Beispiel die Popularität eines wissenschaftlichen Beitrags in den sozialen Medien zu messen, mag es reichen Referenzierungen auf Twitter, Facebook und co. zu zählen und über einen Donut darzustellen. Aber wie misst man den gesellschaftlich sehr relevanten Impact wissenschaftlicher Arbeit, wenn beispielsweise Zahnärzte bei einem Kongress eine neue Behandlungsmethode kennenlernen und sie bei ihren Patienten erfolgreich anwenden? Das lässt sich nicht über Nennungen in den sozialen Medien abbilden.

„Es geht um Formen der Zusammenarbeit, bei der man gemeinsam neues und relevantes Wissen schafft und anschlussfähig macht.“

Oder wie sieht es mit der so wichtigen interdisziplinären Forschung aus? Die aktuelle Corona-Pandemie zeigt ja, dass reale und komplexe Probleme nicht nur aus einer Perspektive behandelt werden können, sondern dass unterschiedliche Disziplinen zusammenwirken müssen, um gesellschaftlich gute Lösungen zu finden. Unsere derzeitige Impactmessung und Evaluation aber zieht Grundlagenforschung interdisziplinärer Arbeit vor. Aber auch interdisziplinäre Forschung kann Grundlagenforschung sein! Wir disziplinieren Wissenskulturen in getrennten Fakultäten, bei der Vergabe von Fördermitteln, bei der Publikation in meist fachspezifischen Journals oder bei Berufungen. Diese Zementierung dessen, was als relevant gilt und was nicht, macht es schwierig für andere Ansätze emporzukommen. 

Wie positioniert sich Deutschland mit seinen Aktivitäten im Bereich Open Science im internationalen Vergleich?

Wenn man sich anschaut, wie viele Artikel unter einer offenen Lizenz veröffentlicht sind, stehen wir in Deutschland und in Europa relativ gut da. Dazu tragen nationale Initiativen wie das DEAL-Projekt oder Plan S in Europa bei. Auch die UNESCO hat Open Access jetzt als Thema aufgenommen. Was allerdings viele nicht verstehen: Open Access ist vorrangig ein Infrastrukturproblem und nicht unbedingt ein Lizenzproblem. Bei DEAL übertragen wir beispielsweise Strukturen, die wir aus dem Analogen kennen, ins Digitale, weil wir mit diesen Verträgen ja weiterhin die Großverlage subventionieren. Im Moment haben wir einfach wenig nachhaltige, nicht-kommerzielle Infrastruktur für die Publikation von Artikeln oder anderen Outputs. Da ist also noch sehr viel zu tun! Schaut man beispielsweise nach Lateinamerika, sieht man einen ganz anderen Weg; dort gibt es die elektronische Zeitschriftenbibliothek SciELO, über die jeder veröffentlichen kann. 

Gemeinsam mit dem Leibniz-Forschungsverbund Science 2.0 bieten Sie für Wissenschaftler*innen eine „Impact School“ an. Worum geht es da?

Die Idee ist, jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Tools an die Hand zu geben, um Wissenschaftskommunikation speziell für ihren Forschungsgegenstand zu betreiben. Wir haben die Beobachtung gemacht, dass Studierende bereits im Bachelor-Studium immer ein Seminar „Wissenschaftliches Schreiben“ belegen können, aber zur Wissenschaftskommunikation nichts vergleichbares angeboten wird. Sie lernen also nie wirklich, ihr Wissen für nicht-wissenschaftliche Akteure und Akteurinnen anschlussfähig zu machen. Selbst in Promotionskollegs oder Promotionsstudiengängen findet das nicht statt. Es gibt auch kaum Weiterbildungsangebote für Wissenschaftskommunikation. In unserer drei- bis viertägigen Impact School hat jeder und jede Forschende die Gelegenheit – eingebettet in ein allgemeines Rahmenprogramm – für die eigenen Themen eine Impact-Strategie zu entwickeln, und dabei zu erkennen, für welche gesellschaftlichen Gruppen der eigene Forschungsgegenstand interessant sein könnte.

Und welche Bezugsgruppen identifizieren die an der Summer School teilnehmenden Wissenschaftlerinnen?

Wir wollen, dass unsere Teilnehmenden erkennen, dass sie ein durchaus diverses Zielpublikum haben können. Das ist uns sehr wichtig! Denn häufig wird gesellschaftlicher Impact oder gesellschaftliche Relevanz mit Aufmerksamkeit verwechselt wird. Entsprechend glauben viele Forschende, sie müssten in Sachen Wissenschaftskommunikation eine breite Öffentlichkeit erreichen. Aber de facto gibt es viele unterschiedliche Teilöffentlichkeiten, die ganz eigene Verwertungslogiken und Qualitätsansprüche haben. Politik, Wirtschaft, Medien, Gesundheitssystem, Kirchen – alle sind gesellschaftliche Intermediäre, die wissenschaftliches Wissen in ihrer jeweiligen Art und Weise verarbeiten. Es geht darum ein Bewusstsein zu schaffen, für wen und unter welchen Bedingungen Forschung für andere relevant sein kann.

So ein Wissenstransfer an ausgewählte Zielgruppen bedeutet viel zusätzliche Arbeit. Wie können Wissenschaftler das überhaupt leisten? 

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können und sollen nicht mit jedem kommunizieren – das aktuelle BMBF-Grundsatzpapier zur Wissenschaftskommunikation geht mir da zu sehr in die Breite. Dafür gibt es eigene Transferstellen an wissenschaftlichen Einrichtungen, deren Aufgabe es ist, einen informierten Diskurs mit der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Aber der spezifische Transfer kann den Wissenschaftlerinnen nicht abgenommen werden, da müssen sie selbst aktiv werden. Und dafür braucht es mehr Trainingsangebote, aber auch flexiblere Karrierepfade, gezielte Förderangebote und Infrastrukturen. Wissenschaftskommunikation ist ein systemisches Problem.

Sie sind ja auch Mitherausgeber des Blogs „Elephant in the lab“. Um welche Themen geht es da – und warum heißt der so?

Der Name leitet sich ab von Elephant in the room – also dem sprichwörtlichen Elefanten, der bei einem offensichtlich nicht angesprochenen Problem im Raum steht. Als wir den Blog vor drei Jahren starteten, haben wir uns vorgenommen, offensichtliche Probleme in der Wissenschaft anzusprechen – wie Zitierkartelle oder Hindernisse für interdisziplinäre Forschung. Dabei geht es uns nicht um das Anprangern von Problemen, sondern darum forschungsbasierte Lösungen anzubieten. Und für unser Programm zur Wissenschafts- und Hochschulforschung am Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft bietet der Blog ein schönes Forum, Themen zu reflektieren und Expert*innen einzuladen.

„Wir beschäftigen uns mit meta-wissenschaftlichen Themen wie Wissenschaftsmanagement, Wissenschaftspolitik oder Forschungsinfrastruktur.“

Unseren Blog betreiben wir auf Englisch, weil wir ein internationales Forum mit Autorinnen und Lesern aus anderen Ländern und Kontinenten sein wollen. Das klappt auch immer besser, unsere Hauptleserschaft kommt zum Beispiel aus den USA. Und damit unsere Blogbeiträge – sie reichen von Opinion pieces über kleine Forschungsartikel bis hin zu Interviews – zitierfähig und durch Altmetrics auffindbar und langfristig archivierbar sind, arbeiten wir auch mit DOIs. 

Letzte Frage: Was bedeutet Open Science für Sie?

Der bestmögliche Umgang mit den zur Verfügung stehenden digitalen Tools für die wissenschaftliche Wertschöpfung! Man muss das gar nicht ideologisch begreifen, sondern sollte die etablierten wissenschaftlichen Kriterien im Digitalen einfach nur konsequent anwenden. Dann landet man automatisch bei zugänglicher, inklusiver und transparenter Wissenschaft. Die Frage ist dann immer noch, welcher Grad der Offenheit in diesen drei Dimensionen an welcher Stelle im Prozess der Forschung angebracht ist. Wenn Sie so wollen, ist Open Science Wissenschaft im Digitalen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Fecher!

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Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver

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