„Für uns hat es sich total gelohnt, mit dem Videomaterial aus der VERA-Studie zu arbeiten.“

Über den Einsatz von qualitativen Forschungsdaten in beobachtenden Studien

Nachnutzung von Forschungsdaten (6) – Die Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Die Sekundäranalyse bereits erhobener Forschungsdaten ist nur eine Möglichkeit, Daten der Bildungsforschung nachzunutzen. Man kann vorhandenes Material auch zu Schulungszwecken einsetzen – zum Beispiel für die Einarbeitung von Beobachtern bei neuen Studien.

Halbporträt Urlike Hartmann, vor Laptop am Tisch sitzend

Dr. Ulrike Hartmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation

FRAGEN AN Dr. Ulrike Hartmann, Wissenschaftlerin am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, die Videoaufzeichnungen aus der VERA-Studie: Gute Unterrichtspraxis für eine Studie zur Leseförderung im Grundschulunterricht eingesetzt hat. Dazu wurden die Beobachterinnen anhand videografierter Unterrichtssequenzen der VERA-Studie auf die eigentliche Erhebungssituation vorbereitet. An Videomaterial zu kommen, das auch noch genau zum eigenen Untersuchungsgegenstand passt, sei nicht ganz einfach, meint Ulrike Hartmann, die sich über die im Forschungsdatenzentrum Bildung (FDZ Bildung) aufbereiteten Videodaten freut.

Frau Hartmann, für welches Projekt haben Sie die Videoaufzeichnungen aus der VERA-Studie benutzt?

Für das iLearn-and-Teach-Projekt, ein Zusatzprojekt zu dem großangelegten BMBF-Projekt iLearn „Individuelle Lernverlaufsdiagnostik zur adaptiven Förderung von Kindern mit Leseschwäche“, bei dem es um die Implementation eines formativen Assessment-Tools zur Leseförderung geht. In unserem Teilprojekt, das von der Mercator-Stiftung gefördert wird, haben wir uns angeschaut, wie technologieunterstützte individuelle Förderung im Unterricht aufgegriffen werden kann, zum Beispiel indem Lehrkräfte gezielt einzelne Schüler individuell fördern, bei denen sie Leseschwierigkeiten festgestellt haben. Darüber hinaus wollten wir herausfinden, was Erfolgsfaktoren für die Implementierung solcher computerbasierten formativen Assessments zur Förderung von Kindern mit Leseschwierigkeiten sind.

Im iLearn-and-Teach-Projekt ging es um Unterrichtsbeobachtungen.

Logo Verbund FDB - Forschungsdaten Bildung

Die Reihe „Nachnutzung von Forschungsdaten“ erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Verbund Forschungsdaten Bildung.

Uns ging es also darum, herauszufinden, wie die Lehrkräfte die Daten aus diesem formativen Assessment nutzen, um Schülerinnen und Schüler in ihrem Leseunterricht möglichst individuell und passgenau zu fördern. Dazu müssen konkrete Unterrichtssituationen beobachtet werden. Wir haben dazu den Deutschunterricht der teilnehmenden Grundschulen beobachtet. Auf eine Videoaufzeichnung der jeweiligen Stunden wollten wir aus Gründen des Datenschutzes verzichten. Wir haben also Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes in die jeweiligen Stunden geschickt, um eine Ad-hoc-Beobachtung in den Unterrichtsstunden zu machen. Sie haben einen von uns entwickelten Beobachtungsbogen bekommen, auf dessen Grundlage sie bestimmte Aspekte des Unterrichts einschätzen sollten. Dazu muss man sehr gut wissen, worauf zu achten ist und entsprechend schulen. Für die ziemlich aufwendigen Beobachterschulungen brauchten wir also Material, um unsere Beobachterinnen auf die Unterrichtssituationen vorzubereiten – und haben dazu die Aufzeichnungen der Unterrichtssituationen aus der VERA-Studie genutzt. Wir hatten ja nur den einen Versuch!

Sie haben also getestet, ob mit dem eigens entwickelten Beobachtungssystem die Unterrichtssituationen auch treffend beschrieben werden können?

Ja, wir haben uns zusammen vor diese Videos gesetzt, den Unterricht angeschaut und sind dann unser Codiersystem nach und nach durchgegangen – immer mit der Frage im Kopf, wie man jetzt diese Situation anhand unseres Manuals einschätzen würde. Es war also wirklich Trainingsmaterial für die Beobachterinnen und Beobachter, die im Rahmen unserer Studie dann in die Schulen gingen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die VERA-Videoaufzeichnungen zu nutzen?

Natürlich war schon im Projektantrag klar, dass wir auch Schulungen brauchen werden, um die Beobachtungen vorzubereiten. Aber dann steht man vor der konkreten Frage, wie man für das spezielle Setting an passende Unterrichtssituationen kommt; sie müssen dem Untersuchungsgegenstand ja relativ nahe kommen, um das eigene Beobachtungsmodell gut ausprobieren zu können. Tatsächlich ist es gar nicht so leicht, frei zugängliche Videos von realen Unterrichtssituationen zu finden, die sowohl vom Alter der Schülerinnen und Schüler her als auch vom Setting passen – im besten Fall also auch noch den Kontext Leseförderung in der Grundschule abbilden!

Die Möglichkeit, schon für die Schulungen in den realen Unterricht zu gehen oder ihn eben aufzuzeichnen, gibt es nicht.

Die Möglichkeit, schon für die Schulungen in den realen Unterricht zu gehen oder ihn eben aufzuzeichnen, gibt es ja nicht; das würde so vieles nach sich ziehen, man bräuchte zum Beispiel Einverständniserklärungen allein für diese Probe. Und natürlich kann man auch nicht die Stichprobe der eigentlichen Erhebung nehmen. Man müsste also nur für diese Trainingszwecke komplett neue Schulen rekrutieren, das ist völlig unrealistisch. Ich bin dann über die Kollegen vom FDZ Bildung am DIPF auf die Videos der VERA-Studie aufmerksam geworden.

Screenshot der VERA-Studie im Portal FDZ BIldung

Die VERA-Studie: Gute Unterrichtspraxis im FDZ Bildung

Hätte es neben dem FDZ Bildung noch andere Möglichkeiten gegeben, auf Videoaufzeichnungen zuzugreifen?

Mittlerweile gibt es einige solcher Videoportale und auch Plattformen, die versuchen, mehrere Portale zu integrieren, zum Beispiel das Meta-Video-Datenportal für Unterrichtsvideos aus Münster. Zum Zeitpunkt unserer Schulungen schien uns allerdings der Kontakt zum FDZ Bildung direkt im Haus am naheliegendsten.

Die Vera-Aufzeichnungen haben sich also als gutes Trainingsmaterial erwiesen?

Kontext und Unterrichtsfach haben relativ gut gepasst, weil wir die Videodaten zum Deutschunterricht hatten, den wir uns später auch in den Schulen angeschaut haben. Was sich im Nachhinein allerdings als ein bisschen schwierig herausgestellt hat: Der videografierte Unterricht war eher ein überdurchschnittlich guter Unterricht, denn die Vera-Studie hatte ja auch gute Unterrichtspraxis zum Thema. Bei manchen Aspekten hatten wir den Eindruck, zum Beispiel als es um das Raten der Unterrichtsqualität ging, dass Schwankungen – wenn überhaupt – immer nur im oberen Bereich stattfinden. Wir konnten also nicht die gesamte Skala ausschöpfen und hatten zwischendurch den Eindruck, dass wir in den realen Unterrichtsszenen auch noch ganz anderes sehen könnten.

Was sich dann auch bewahrheitet hat?

Nicht so stark, wie wir befürchtet hatten. Das liegt vermutlich vor allem an Selektionseffekten, die auch in unserer Studie aufgetreten sind: Lehrkräfte, die sich bei einer Unterrichtsstunde beobachten lassen, sind tendenziell wahrscheinlich eher diejenigen, die relativ guten Unterricht machen und sich vielleicht auch anders vorbereiten. Generell hatten wir im Vergleich zur Gesamtstudie nur eine relativ kleine Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern, ca. 30 Stück, die sich zu einer Unterrichtsbeobachtung überhaupt bereit erklärt haben. Man kann deshalb schon davon ausgehen, dass am Ende diejenigen an einer solchen Erhebung teilnehmen, die sich in ihrem Unterricht wohlfühlen und auch relativ sicher sind.

Gab es denn irgendwelche Schwierigkeiten bei der Nachnutzung? Oder Besonderheiten?

Zum Teil war die Tonqualität nicht ganz so gut, die Videos sind ja schon ein bisschen älter. Das ist vielleicht etwas, womit man bei einer Nachnutzung rechnen muss. Manchmal machen es auch regionale Besonderheiten wie starke Dialekte oder Akzente bei Lehrkräften oder auch bei den Schülerinnen und Schülern schwieriger, Äußerungen zu verstehen und einzuschätzen. Aber das sind Dinge, die auch in der realen Unterrichtsstunde passieren können. Ansonsten hat aber alles gut geklappt – auch die Kameraperspektiven haben die unterschiedlichen Situationen sehr gut eingefangen, man konnte den relevanten Kontext also mitbekommen. Und wenn wir gemerkt haben, dass eine Videoaufzeichnung überhaupt nicht für unsere Zwecke passte, konnten wir eben ein anderes Video aussuchen.

„Ein größerer Fundus unterschiedlicher Videodaten ist eindeutig ein Vorteil!“

Was außerdem toll war: Auf die Videodaten konnten wir auch längerfristig zugreifen, als sich unser Studienablauf verzögerte. Wir mussten nämlich letztlich in unserer Studie in zwei Kohorten, also in zwei aufeinanderfolgenden Schuljahren, erheben. Weil unsere Stichprobe bei der Erhebung im ersten Schuljahr nicht groß genug gewesen ist, mussten wir im nächsten Schuljahr erneut erheben. Fürs Training der Beobachterinnen und Beobachter konnten wir also genau dasselbe Videomaterial noch einmal verwenden. Also für uns hat es sich total gelohnt, damit zu arbeiten. Natürlich war das Beantragen eines FDZ-Zugangs zu den Daten ein bisschen Arbeit, denn den brauchte jede und jeder im Projektteam, der mit den Unterrichtsvideos zu tun hatte. Aber diesen Vorlauf halte ich für das, was man bekommt, absolut gerechtfertigt.

Vielen Dank für das Gespräch, Ulrike Hartmann!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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