„Unser Ziel ist es, den Bürgerrat Bildung und Lernen langfristig als feste Größe in der Bildungslandschaft zu verankern.“

Nach dem Bürger- und Jugendforum am 28./29. Mai starten im Juni die Kinder- und Jugendwerkstätten

Nachdem wir bereits eine Teilnehmerin und einen Moderator nach ihren bisherigen Eindrücken zum Bürgerrat Bildung und Lernen gefragt haben, lassen wir jetzt eine Organisatorin zu Wort kommen, die Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt Sabine Milowan.

Halbporträt von Sabine Milowan

Sabine Milowan, Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt

FRAGEN AN Sabine Milowan, Leiterin der Montag Stiftung Denkwerkstatt. Die Bonner Stiftung hat das Projekt Bürgerrat Bildung und Lernen ins Leben gerufen. Sie ist Projektleiterin des Bürgerrats Bildung und Lernen in der Montag Stiftung Denkwerkstatt. Die Denkwerkstatt als gemeinnützige Stiftung ist Initiatorin und Gastgeberin – das heißt, sie bietet den Rahmen für die Beratung der Bürgerinnen und Bürger, steht für die Prozessqualität, ist aber selbst nicht an der Themenfindung und Erarbeitung der Empfehlungen und Vorschläge beteiligt.

Frau Milowan, wie ist das Bürger- und Jugendforum am 28./29. Mai gelaufen?

Das Bürger- und Jugendforum ist auf verschiedenen Ebenen sehr gut gelaufen. Es musste ja digital stattfinden, und allein technisch war es eine Herausforderung, diese Veranstaltung als Videokonferenz zu gestalten! Es mussten rund 400 zufällig ausgewählte Menschen (davon 50 im separaten Jugendforum) digital vernetzt und in Kleingruppen organisiert werden. Die Formate waren ebenso vielfältig wie bei einer Präsenzveranstaltung: Plenum und Kleingruppen, Dialogrunden und Infomarkt, Themenforen – und schließlich „Kaffeetische“; an denen haben viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Ende des ersten Tages intensiv weiter diskutiert! 95 Prozent der Teilnehmenden beider Foren haben angegeben, dass sich die Teilnahme für sie gelohnt hat, über 80 Prozent können sich vorstellen, auch im nächsten Schritt im Bürgerrat wieder dabei zu sein. Im Chat gab es viele positive Rückmeldungen, wie z.B. „vorbildliche Gesprächskultur“, „eine interessante Erfahrung“, „ein absoluter Gewinn und eine Erweiterung der Sichtweise“, „sehr gute Denkanstöße“, oder „so fühlt sich gelebte Demokratie an“. Insofern steht die gelungene Durchführung als digitales Bürgerforum an sich für das Potenzial, das durch die Digitalisierung im Bildungsbereich möglich ist.

Wie war die Zusammensetzung der TN beim Bürger- und Jugendforum?

Unter den rund 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren circa 100 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 27 Jahren, davon hat ungefähr die eine Hälfte im separat laufenden Jugendforum eigene Vorschläge entwickelt, die andere Hälfte hat ihre Perspektiven ins Bürgerforum eingebracht. Ausgewählt wurden die Teilnehmenden in einem komplexen Zufallsverfahren nach soziodemografischen Kriterien, um eine möglichst heterogene Zusammensetzung des Bürgerdialogs zu gewährleisten, zum Beispiel nach Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund und Regionen aus ganz Deutschland. Ein Schwerpunkt war, gezielt die junge Generation zu erreichen, aber auch darüber hinaus Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, die wenig oder keine Erfahrung mit Beteiligung haben. Ziel dieser Zufallsauswahl ist es, einen Querschnitt der Bevölkerung abzubilden, der als so genannte „Mini-Publik“ die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt.

„Für eine möglichst heterogene Zusammensetzung des Bürgerdialogs haben wir die Teilnehmenden in einem komplexen Zufallsverfahren nach soziodemografischen Kriterien ausgelost.“

Was sind die Ergebnisse?

Die Ergebnisse des Bürger- und Jugendforums umfassen über 50 differenzierte Vorschläge und Ideen rund um bekannte und auch neue Herausforderungen unseres Bildungssystems wie zum Beispiel: individuelles und lebenslanges Lernen, eine Öffnung und neue Gestaltung von Lehrplänen, Unterstützungsangebote für Lernende und auch Lehrende, Schaffen von Bewusstsein für Gesundheitsförderung und Achtsamkeit, mehr Teilhabe und Mitgestaltung in Schule und Bildungswesen, Evaluation, Finanzierung, Vermittlung von IT- und Medienkompetenz oder die ergänzende Einführung von Zufallsgelosten in Gremien der Schülermitbestimmung.

Im Juni beginnen die Kinder- und Jugendwerkstätten? Können Sie kurz erklären, wie die ablaufen werden.

Damit auch Perspektiven von Kindern und Jugendlichen zwischen acht und 16 Jahren einfließen können, starten wir parallel zum Bürger- und Jugendforum in diesem Jahr zunächst konzentriert mit fünf moderierten Werkstätten an unterschiedlichen Schulen und Schulformen in ganz Deutschland. Die erste Werkstatt in Hamburg hat Anfang Juni stattgefunden, bis Mitte August sind weitere Werkstätten in Sachsen, Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen geplant. Hier entwickeln die Schülerinnen und Schüler Handlungsempfehlungen, die für ihren Lernalltag von Bedeutung sind – unter anderem auch in zufällig gebildeten Kleingruppen. Gewählte Schülerbotschafter oder -botschafterinnen aus allen teilnehmenden Schulen tragen die Ergebnisse in einem Begleitteam zusammen und vertreten die Sichtweisen und Vorschläge der Kinder- und Jugendlichen im weiteren Prozess. Die Ergebnisse werden in einem separaten Kinder- und Jugendreport zusammengefasst und sollen als eigene Perspektive bei den Sitzungen des Bürgerrats und auf dem Bürgergipfel vorgestellt werden. Geplant ist, die Kinder- und Jugendbeteiligung in den kommenden Jahren weiterzuentwickeln und zu ergänzen, dazu tauschen wir uns regelmäßig mit verschiedenen Organisationen und Verbänden aus.

Wie geht es jetzt weiter? Wann und wie werden die Ergebnisse an die bildungspolitischen Entscheider in Bund und Ländern weitergeleitet?

Die im Bürger- und Jugendforum erarbeiteten Vorschläge werden am 18./19. September 2021 im Bürgerrat von rund 100 Menschen aus dem Bürgerforum zu konkreten Empfehlungen weiterentwickelt. Diese Empfehlungen werden dann von gewählten Bürgerbotschafterinnen und -botschaftern auf dem Bürgergipfel im November an die Verantwortlichen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene übergeben.

Die öffentliche Resonanz auf die bisherigen Aktivitäten war bislang nicht allzu groß. Können Sie sich erklären, woran das liegt?

Jede Erklärung spiegelt ja immer nur einen Teilaspekt und eine persönliche Perspektive. Die Frage ist auch: Was ist der Maßstab? Wir sind mit dem Projekt im Oktober 2020 gestartet, stehen also bezogen auf die zunächst festgelegte Laufzeit von drei Jahren erst ganz am Anfang. Bisher ist – von außen betrachtet – also noch nicht viel passiert. Der Bürgerrat Bildung und Lernen, der ja bisher keinen parlamentarischen Auftrag hat, will auch nicht ganz schnell die große öffentliche Aufmerksamkeit erzielen (z.B. durch strategisch angelegte PR-Kampagnen), die möglicherweise genauso schnell wieder verfliegt.

„Unser Ziel ist es, den Bürgerrat Bildung und Lernen langfristig als feste Größe in der Bildungslandschaft zu verankern.“

Wer die Diskussion rund um Schule, Bildung und Lernen in den letzten Jahrzehnten verfolgt hat und auf das schaut, was letztendlich verändert und wirklich erneuert worden ist, erkennt deutlich die Schwerfälligkeit des Systems. Durch die Pandemie ist das noch stärker sichtbar geworden. Es wäre demnach naiv anzunehmen, dass sich durch eine schnelle öffentliche Wirkung auch ganz schnell etwas verändern oder transformieren lässt. Daher setzen wir auf den Prozess und die Qualität des Verfahrens. Der dialogische Meinungsbildungsprozess – das so genannte deliberative Verfahren – jeweils über ein ganzes Jahr, ermöglicht es durchdachte, ausgewogene Empfehlungen als Grundlage für fundierte Entscheidungen zu erarbeiten. Wie die Berichte über das große Bürger- und Jugendforum zeigen, zieht der Bürgerrat Bildung und Lernen nach und nach immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, sowohl in regionalen als auch in überregionalen Medien.

Was beinhaltet ein Durchlauf jeweils?

Die Stationen eines Durchlaufs beim Bürgerrat Bildung und Lernen. Der erste Durchlauf startete im Herbst 2020.

Im Bürgerrat Bildung und Lernen beraten jeweils über ein Jahr 500 bis 1000 ausgeloste Menschen aus ganz Deutschland in mehreren Veranstaltungen, was getan werden muss, um die Situation in Schulen, Kitas, Ausbildungsstellen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen zu verbessern. Ein Durchlauf umfasst als feste Bausteine bisher einen ersten öffentlichen Online-Dialog, den Vorbereitungsworkshop, die Bürger- und Jugendforen, den Bürgerrat und den Bürgergipfel. Da sich der Bürgerrat Bildung und Lernen selbst als „lernendes Projekt“ begreift, sind wir jederzeit flexibel und offen für Veränderungen. Das heißt, wir können den Ablauf je nach Situation und aktuellen Erfordernissen anpassen – bei Bedarf beispielsweise weitere Online-Dialoge anbieten.

Haben Sie sich für den nächsten Durchlauf etwas vorgenommen?

Diese Frage lässt sich für mich erst dann detailliert beantworten, wenn der erste Durchlauf beendet ist. Zu einem lernenden Projekt gehören für uns auch die Betrachtung, Reflexion und Evaluation des Prozesses und der Ergebnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sowohl innerhalb der Steuerungsgruppe mit unseren Kooperationspartnern und Prozessbegleitern, als auch mit Externen und Critical Friends, mit denen wir seit Jahren im Austausch sind. Generell aber gilt für den nächsten Durchlauf das, was auch das langfristige Ziel ist: Wir wollen den Bürgerrat Bildung und Lernen als feste Größe in der Bildungslandschaft etablieren. Als neue Stimme, die gehört wird und gut begründete Empfehlungen ausspricht, die auch in laufenden Legislaturperioden Thema sein können.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Milowan.


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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