Wie man mit einer digitalen Lernumgebung erfolgreich Lernprozesse individualisiert.
INTERVIEW mit Volker Arntz, Schulleiter einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, die eine digitale Lernwelt entwickelt hat und konsequent auf individualisierte Lernprozesse setzt. Mit Erfolg: Es gibt keine Schulabbrecher mehr, Vergleichsarbeiten liegen vor dem Landesdurchschnitt und der Gesamtschnitt bei der letzten Mittleren Reife lag bei 2,2.
Herr Arntz, die Hardtschule hat bereits vor der Pandemie den Unterricht in eine digitale Lernumgebung verlegt. Warum?
Die Vorstellung, man könne den Unterricht einfach so in eine digitale Lernumgebung verlegen, ist irreführend, das ist ein langwieriger Prozess. Bei uns in der Hardtschule hatte er seinen Ursprung in der Idee, dass wir es jedem Kind ermöglichen wollen, in seiner eigenen Geschwindigkeit zu lernen. Zwischen dem schnellsten und dem langsamsten Lerner kann im Mathematik-Unterricht der Klasse 8 ein komplettes Lern-Jahr liegen; solche Unterschiede im Lernstand kann eine Lehrkraft nicht von der Tafel aus steuern oder ausgleichen, das muss systemgetrieben erfolgen. Und genau das geht mit digitalen Verfahren. Ein Beispiel: Als Englisch-Lehrerin können sie einen Input zum Thema Hörverstehen geben, indem sie der Klasse den Text auf einer CD vorspielen, alle sollen ja dieselbe Aufgabe machen. Im Unterricht wird aber jede Schülerin an einer anderen Stelle hängen bleiben. Wenn Sie das Hörbeispiel aber über eine Cloud anbieten, kann jeder Schüler die Hörbeispiele dezentral über sein Handy oder seinen Laptop herunterladen und ihn in seiner eigenen Geschwindigkeit abspielen und erfassen. Und genau das macht den Sog der Digitalisierung aus: Sie bietet einzigartige Möglichkeiten für die Individualisierung von Lernprozessen.
Was treibt eine Schule dazu, das individualisierte Lernen tatsächlich in die Hand zu nehmen?
Die Erkenntnis, dass es anders nicht geht. Und die einzigartige Chance, die sich 2012 mit der Einführung der „Gemeinschaftsschule“ bot: Einen radikalen Schnitt machen zu können. Wir konnten tun, was vorher unmöglich war: Fragen, was Kinder brauchen, um gut lernen zu können. Also haben wir „Tabula rasa“ gemacht und alles auf den Prüfstand gestellt.
„In der Hardtschule reden wir über das Lernen, nicht über das Lehren.“
Grundsätzlich ist die Idee, allen zu einer bestimmten Zeit dasselbe beizubringen, ja ein Push Prozess: Die Lehrkraft vermittelt allen Schülerinnen und Schülern zur gleichen Zeit denselben Input. Wenn aber jeder in seiner eigenen Geschwindigkeit, also asynchron, lernen kann, kommt die Lehrkraft in einen Pull-Prozess, bei dem die Schüler „ziehen“. Dazu braucht es aber eine Lernumgebung, in der sich Lehrerinnen wie Schüler bewegen können. Und so haben wir angefangen unsere digitale Lernwelt „Learnscape“ mit Lernmodulen, so genannten „Lernjobs“, für jedes Fach und jede Klassenstufe zu entwickeln.
Wie ist diese Neuorientierung im Lehrerkollegium angekommen?
Wir haben beschlossen, die Schule nicht auf einen Schlag zu transformieren, sondern das alte Modell Werkrealschule auslaufen und das neue Modell Gemeinschaftsschule durchwachsen zu lassen. Dazu haben wir 2014 noch in der Werkrealschule in Jahrgangsstufe 5 eine Pilotstufe eingerichtet und das – zuvor in einer großen Klausur drei Tage lang mit Eltern, Lehrern, Schülern, Schul- und Kommunalverwaltung gemeinsam entwickelte – Modell mit unseren Schülern erprobt.
„Als Schulleiter war mir klar: Die Umsetzung wird keine Revolution, sondern ein Wachstumsprozess werden.“
Für die beiden Pilotklassen in der Jahrgangsstufe 5 brauchten wir sechs Lehrkräfte; jedes Jahr sind neue Lehrerinnen dazu gekommen. In der Gesamtlehrerkonferenz haben wir dem Thema mit einem eigenen Slot eine große Bühne gegeben. Die beteiligten Lehrer hatten sehr viel zu leisten und doch waren sie zufriedener. In den Pilotklassen mussten sie nämlich keinen Druck mehr ausüben, um gleich zu machen, was nicht gleich ist. Und weil Druck bekanntlich zu Gegendruck führt, wurde Energie für das Lernen selbst frei. Das war eine befreiende Erfahrung!
Die Lehrer sind also zufriedener geworden, weil sie weniger stressige Konflikte hatten.
Ja, in dem Moment, in dem die Kinder sich gesehen fühlen, verschwindet die Feindseligkeit aus dem System. Dazu müssen die Lehrkräfte aber im Team agieren. Man muss gemeinsam Dinge festlegen wie: Welche Freiheitsgrade haben Fünftklässler in diesem System? Was dürfen sie, was noch nicht? Wie gehen sie mit ihrem Lerntagebuch um? Wie gehen sie um mit Rhythmisierung? Es zeigte sich relativ schnell, dass die bisherige Teamarbeit nicht effizient genug war.
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Wie haben Sie die Teamarbeit innerhalb des Kollegiums organisiert?
Anfangs war es wirklich eine Blut-, Schweiß- und Tränennummer. Wenn Du als Schulleitung morgens um halb acht eine hochmotivierte Kollegin aus der Pilotstufe weinend auf dem Flur triffst, weißt Du, dass Du was ändern musst. Die Kollegin hatte Mathematik in beiden Klassen und musste daher alleine die Lernjobs der Jahrgangsstufe 5 entwickeln. Die Vorstellung, dass sie das die nächsten fünf Jahre für die Stufen 6 bis 10 alleine tun soll, konnte sie nicht aushalten Die gesamte Lernlandschaft der Schule können ja nicht sechs Lehrkräfte allein bauen! Wir haben also jahrgangsübergreifende Fachteams für die Entwicklung der „Lernlandschaft“ gebildet, sodass irgendwann alle Kollegen davon profitieren, dass die Unterrichtsmaterialien von Klasse 1 bis Klasse 10 in der Lernplattform bereitstehen und genutzt werden können.
„Für die Bildung von Fachteams braucht es Überzeugungsarbeit: Du zahlst heute was ein für deine Kollegen, kriegst aber später auch was raus.“
Es ging also für die sechs Jahre des „Durchwachsens“ darum, eine Mehrbelastung zu akzeptieren, um dann in eine „Melkphase“ zu kommen. Das war eine Investition in die Zukunft, für die es einen Aushandlungsprozess brauchte.
Um diesen Schulentwicklungsprozess zu stemmen, haben Sie Scrum eingeführt – ein Instrument, das aus der agilen Softwareentwicklung kommt.
Wir haben uns für Scrum entschieden wegen seines schlanken Regelwerks und der übersichtlichen Rollenverteilung: Es gibt Product Owner (PO), Entwickler, DoDs und einen Scrum-Master. Der Fachverantwortliche im Team, der Product-Owner schreibt „User Stories“. Das sind klare Arbeitsaufträge, auf deren Basis die Entwickler die Lernjobs bauen. Grundlage dafür sind die im Vorfeld festgelegten Qualitätskriterien, die „Definitions of Done“, kurz „DoDs“. Die fertigen Jobs werden anhand der DoDs gegengeprüft und schließlich im Lernmanagementsystem freigeschaltet. Und wenn ein Lernjob in der Praxis nicht so gut funktioniert wie gedacht, kannst Du als Lehrkraft das Problem unkompliziert im Lernmanagement-System in der Kommentarspalte notieren. Der PO berücksichtigt diese Rückmeldungen und schreibt eine „User-Story“ zur Überarbeitung des entsprechenden Lernjobs. Solche klar festgelegten Rollen ermöglichen es erst, dass Lehrkräfte intensiv miteinander Qualität verhandeln können, ohne es als übergriffig zu empfinden.
Scrum ist ein sich fast selbst steuerndes System, das mit seinen Qualitätssicherungsschleifen zu einer hohen Konsistenz innerhalb des Lernsystems führt.
Ein weiterer Vorteil dieses Rollenmodells ist, dass sich hinter jeder Rolle eine Körperschaft bilden kann. Die Product Owner erarbeiten in ihrer PO-Runde die globalen DoDs für die ganze Lernlandschaft und sorgen so dafür, dass Englisch-Jobs plötzlich nicht ganz anders gebaut sind als Deutsch- oder Mathe-Jobs; die lokalen DoDs werden in den Fachteams erarbeitet. Das führt dazu, dass Schüler und Schülerinnen die Lernlandschaft als bruchfrei und konsistent erleben und sich auf den Lernstoff konzentrieren können.
Wenn alle Lernjobs fertig sind, welche Aufgaben haben dann die Lehrkräfte?
Die von den Fachteams gebauten Lernjobs würden weitgehend auch ohne Lehrer funktionieren, es sind im Grunde Selbstlernmaterialien, die den Schülern aus dem Lernmanagementsystem zugespielt werden. Aufgabe der Lehrkräfte ist es nun, die Kinder als Lernbegleiter konstruktiv beim Lernen zu unterstützen. Dazu muss man gut im Classroom-Management sein, und man braucht ein hohes Maß an Empathie. In den höheren Jahrgangsstufen spielen natürlich auch in der Lernbegleitung zunehmend fachliche Aspekte eine Rolle. Das macht uns nicht zuletzt auch unempfindlicher gegenüber dem Lehrermangel in manchen Fächern.
„Das Schüler-Lehrer-Verhältnis funktioniert nicht über Macht, sondern über Verantwortung, Regeln und Rollen.“
Und welche Rolle bleibt der Schulleitung?
Jedem Kollegen und jeder Kollegin dabei zu helfen, den Platz zu finden, an dem die jeweiligen Interessen und Talente am besten entfaltet werden können. Wenn beispielsweise eine neue Kollegin zum ersten Mal zum Personalgespräch kommt, fällt ihr Blick recht schnell auf das sehr große Organigramm an meiner Bürowand. Und natürlich schaut man da gemeinsam drauf und überlegt: Wo ist gerade dein Platz? Wo zieht es dich denn hin?
„Diese Idee des „Mitnehmens“ ist Mist. In unserer Schule haben wir den Menschen einen Platz angeboten, und sie haben sich entschieden mitzugehen! Das ist etwas ganz anderes.“
Kurz: Wir haben die Kollegen direkt angesprochen und gefragt, ob und wie sie bei dem Schulentwicklungsprozess mitmachen wollen. Alle sind explizit gefragt worden und haben nach einer gewissen Bedenkzeit in einem Personalgespräch zugesagt. Es gibt keine Kollegin und keinen Kollegen, der oder die im Organigramm der Hardtschule nicht in einer Funktion auftaucht. Außerdem bietet die neue Organisationsstruktur mit ihren Rollenmodellen neue Verantwortungsbereiche und damit auch Möglichkeiten für die berufliche Weiterentwicklung: Als Coach kann man sich in systemischer Beratung qualifizieren und Teil der Coaching-Runde werden. Du kannst dich aber auch im Bereich der Unterrichtsentwicklung engagieren, zum Beispiel als Product Owner, Scrum Master oder Lernjob-Entwickler. Wer Lust hat, sich im Bereich der Schulentwicklung zu engagieren, wird Teil der Steuergruppe. Und es gibt auch Rollen für stille Menschen – quasi in der zweiten Reihe. Im Qualitätssicherungsteam will man beispielsweise keine Meinungsbildner haben, sondern nüchterne, strukturierte Denker mit klarem Blick.
Was würden Sie Schulen, die einen Schulentwicklungsprozess planen, empfehlen?
Genau zu überlegen, was man tut und langsam gehen. Man sollte nicht Lösungen für Probleme finden, die die Menschen nicht haben. Es ist besser, das Problem zuerst im Team zu beschreiben und zu teilen, weil die Lösungen dann auf fruchtbareren Boden fallen. Man muss konsequent „straight forward“ denken und jeden einzelnen Schritt mit Beschlüssen absichern, damit die Organisation nicht wieder in alte Zustände zurückfallen kann. Außerdem müssen bei jeder schulischen Entwicklung Qualitätssicherungsschleifen zur Stabilisierung eingebaut werden. Die Rolle der Schulleitung liegt vor allem darin, Initiator zu sein und relevante Diskussionen anzustoßen; in Entscheidungsprozessen tritt sie dann idealerweise etwas zurück. Es sollte nichts durchgesetzt werden, das im Kreise der Kollegen nicht resonanzfähig wäre. Und man darf keine Mikrosteuerung machen. Ganz wichtig bei allen Veränderungen: Kein schnelles erstes „Committment“ anstreben. Das bringt nichts, weil es nicht ehrlich ist – es kommt zu einem „bent and wait“, das heißt die Kolleginnen lehnen sich zurück, warten bis der „Sturm“ vorbei ist, und kommen dann wieder nach vorn.
„Wenn man sich auf Schulentwicklung einlässt, bläst einem von allen Seiten der Gegenwind ins Gesicht.“
Während eines Schulentwicklungsprozesses offenbart man sich und kollidiert mit dem Schulträger, der Politik, dem Datenschutz oder der Schulaufsicht. Man bewegt sich in Grauzonen und muss Fehlschläge hinnehmen. Das muss man aushalten können. Wichtig dabei ist: Auch kleine Veränderungen sind Veränderungen, die viel Kraft kosten. Aus meiner Sicht sollten die Veränderungsschritte deshalb immer so groß wie möglich sein, aber eben auch nicht zu groß.
Was nehmen Sie aus der Erfahrung des Distanzunterrichts in den Präsenzunterricht mit?
In der Pandemie war plötzlich das Geld für einen Messenger-Dienst da. Also haben wir Threema-Work eingeführt und es so konfiguriert, dass alle mit allen im geschützten Raum Gruppen bilden und kommunizieren können. Jeder Fünftklässler kann den Schulleiter oder seine Lehrerin anschreiben. Das entspannt ungemein, weil jetzt vieles asynchron geklärt werden kann. Gleichzeitig bietet der Messenger-Dienst auch ganz neue Möglichkeiten: Schüler sind lernfähig, wenn es ihnen gut geht. Wenn die Lernbegleiterin den Eindruck hat, dass mit einer Schülerin etwas nicht in Ordnung ist, kann sie einen One-to-One-Kanal einrichten und direkt in den persönlichen Kontakt mit ihr gehen. Wenn man nah dran ist und frühzeitig interveniert, braucht man später keinen Reparaturbetrieb und keine Nachhilfe mehr. Das ist jetzt mit dem Messenger viel einfacher.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Arntz!
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver