„Open Education schafft Mehrwert vor allem da, wo digitale Medien das Lernen überhaupt erst ermöglichen“

Voraussetzung dafür ist ein durchlässiges und flexibles Bildungssystem

FRAGEN AN Professor Olaf Zawacki-Richter von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Der habilitierte Erziehungswissenschaftler gründete am dortigen Institut für Erziehungswissenschaft 2018 das Center for Open Education Research (COER), das sich mit Open Education, Bildungstechnologie, lebenslangem Lernen und internationalen Bildungsfragen auseinandersetzt. Das Ziel des COER: international führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammenbringen, um kollaborativ und interdisziplinär Forschungsaktivitäten und Stipendien im Bereich der Bildungsforschung voranzubringen. Wir wollten von ihm wissen, was Open Education bedeutet und womit man sich beschäftigt, wenn man Open Education Research betreibt.

Professor Olaf Zawacki-Richter, Center for Open Education Research (COER) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Herr Zawacki-Richter, was bedeutet „Open Education“?

Der Begriff reicht in die 1960er, 1970er Jahre zurück, als die Open Education-Bewegung ihren Anfang nahm und die OECD von einer World Education Crisis sprach. Die Grundidee von Open Education ist es, Zugang zu allgemeinen Bildungsangeboten zu eröffnen. Die Voraussetzung und Herausforderung dafür ist die Durchlässigkeit eines Bildungssystems. Und dabei spielt Open Education eine große Rolle: Bei der horizontalen Durchlässigkeit geht es um Anrechnungsfragen – zwischen Hochschulstudiengängen, aber auch zwischen formeller und informeller Bildung. Vertikale Durchlässigkeit bedeutet, dass man beispielweise auch ohne Hochschulreife ein Studium aufnehmen kann.

Open learning meint: Jede/r kann studieren, auch ohne Hochschulzugangsberechtigung.

Das war die Idee von Open Learning: durchlässige Bildungssysteme zu entwickeln und mehr Menschen den Zugang zur Hochschulbildung zu ermöglichen. In den 1950er Jahren konnten ja gerade fünf Prozent eines Altersjahrgangs an die Universität gehen, heute sind wir in Deutschland bei fast 60 Prozent! Im Rahmen dieser enormen Expansion des Hochschulwesens entstanden neue Typen von Hochschulen wie Fachhochschulen in Deutschland oder die Polytechnics in Großbritannien. Auch die Zugangsmöglichkeiten wurden durch einen zweiten und dritten Bildungsweg oder die Zulassungsprüfung ohne Abitur erweitert. In dem Zuge haben sich in den 60er Jahren übrigens auch die Open Universities gegründet.

Eine verbindliche Definition von Open Education gibt es aber nicht, oder?

Nein, es gibt nicht die eine Definition. Initiiert vom Center for Open Education Research (COER) schreiben 20 Mitglieder aus der ganzen Welt gerade an einem Positionspapier „The Concept of Open Education“ und überlegen gemeinsam, was Elemente von Open Education sind: Wo kommt es her? Welche Rolle spielen freie Lernmaterialien wie OER und MOOCs? Wie wirken die Entwicklungsstränge von Open and Distance learning ins Thema hinein? Wie steht es um das Thema Durchlässigkeit? Bei letzterem geht es vor allem um Ansätze wie PLAR – Prior Learning Assessment and Recognition und die Qualität von Anrechnungsprozessen. PLAR ist weit verbreitet in Kanada, das längere Traditionen bei Open Education Systemen und der Anrechnung von Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge hat als wir, fast jede Hochschule dort hat ein eigenes PLAR-Center.

Open Education: Institutionen und Netzwerke

COER – Center for Open Education Research: International research consortium, established in 2018 in order to increase international collaborative research projects, furthering innovation and understanding in the areas of open education, educational technology, lifelong learning and international education.

OERinfo – Informationsstelle OER: Nationales themenspezifisches Online-Portal, das für die Öffentlichkeit und fachliche Zielgruppen umfassende Informationen zum Thema Open Educational Resources zur Verfügung stellt. Ziel ist die breite Sichtbarmachung von OER und die Ansprache von neuen Zielgruppen. Der aktuelle Kenntnisstand soll für die Praxis aufbereitet, Informationen zu Best-Practice-Beispielen gebündelt und die Vielfalt vorhandener Initiativen abgebildet werden.

Open Education Consortium: The Open Education Consortium (OEC) is a non-profit, global, members-based network of open education institutions and organizations. OEC represents its members and provides advocacy and leadership around advancement of open education globally. OEC works with its members to build capacity to find, reuse, create and share Open Educational Resources (OER), develop open policy, create sustainable open education models, and enable international collaboration and innovation. OEC annually coordinates and hosts Open Education Week, the Open Education Global conference, and Open Education Awards for Excellence.

International Council for Open and Distance Education (ICDE): The ICDE is the leading global membership organization for online, open and flexible education and draws its membership from institutions, educational authorities, commercial actors, and individuals.

Wie funktioniert das genau mit der Anrechnung von Kompetenzen?

Es geht darum, außeruniversitär erworbene Kompetenzen (auch informelle) auf formale Bildungsangebote anzurechnen. Dafür gibt es zwei Verfahren, das pauschale und das individuelle Verfahren. Ein Beispiel für das pauschale Verfahren wie wir es auch an unserer PLAR-Servicestelle in Oldenburg praktizieren: Eine Studienanfängerin möchte ihren beruflichen Abschluss zur geprüften Industriefachwirtin auf den Bachelorstudiengang „Business Administration“ angerechnet bekommen. Über ein von uns entwickeltes Verfahren für einen Äquivalenzvergleich kommen wir auf 40 KP, die auf einen 180KP-Bachelor-Studiengang angerechnet werden können. Das bedeutet, jeder, der diese Ausbildung abgeschlossen hat, bekommt diese Punkte pauschal angerechnet. Viel aufwändiger als die pauschalen sind die individuellen Verfahren; jemand kann informell sehr viel gelernt haben, aber eben nicht über die formalen Qualifikationen verfügen. Wie kann man solche informell erworbenen Kompetenzen dokumentieren? Wir machen das über ein reflexives Portfolio; die Studienwilligen reichen eine Mappe ein, in der sie darlegen müssen, was sie gemacht haben, welche Kompetenzen sie durch ihre Tätigkeit erworben haben, und sie müssen auch über das Niveau reflektieren, das sie erreicht haben. Diese Mappe bildet die Grundlage für eine Anrechnungsentscheidung der Fachvertreter in den Fakultäten. Letztlich gibt es aber verschiedene Verfahren und Systeme, auch Open Badges gehören dazu.

Wie ist das Verhältnis von Open Science und Open Education?

Wenn man Open Education nach vorne bringen will, muss ein Kulturwandel unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stattfinden in Richtung einer Open Educational Practice. Wir müssen zum Beispiel offene Bildungsmaterialien nicht nur unterstützen, sondern uns auch an deren Entwicklung beteiligen; wir müssen bereit sein, nicht nur Forschungsergebnisse zu teilen, sondern auch unsere Lehre zu teilen und transparent und offen zu machen. Es geht um die Schnittstelle zwischen Forschung und Lehre und die allgemeinen Entwicklungen zur Öffnung des Forschungsprozesses wie Open Data, Open Peer-Review-Prozesse oder Open Access-Tools für die Forschung – dass man zum Beispiel nicht mehr SPSS benutzt, sondern offene Software wie das Statistikprogramm R. Leute, die das machen, sind offen im Sinne von Open Scholars und bringen, wie das an der Universität auch sein soll, die Forschung direkt in die Lehre ein.

Open Education Research – was wird da eigentlich genau erforscht?

Open Education ist ein interdisziplinäres Feld, die Forschungsgegenstände befinden sich auf verschiedenen Ebenen: auf der Systemebene, der institutionellen und auf der Lehr-Lern-Ebene. Deshalb gibt es in unserem COER-Zentrum Kollegen, die sich mit Mediendidaktik und Learning Design befassen, und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Educational Administration, also Bildungsmanagement machen oder ganze Bildungssysteme im Kontext der digitalen Transformation untersuchen.

Open Education Research meint Forschung in und über das interdisziplinäre Feld Open Education.

Konkret beschäftigen wir uns zum Beispiel mit Fragen wie: Was sind Spezifika von OER? Wie sichern wir ihre Qualität? Oder das Projekt „EduArc – Digitale Bildungsarchitekturen. Offene Lernressourcen in verteilten Lerninfrastrukturen“ – da fragen wir gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern, wie dezentral verteilte Ressourcen überhaupt auffindbar gemacht, Metadaten definiert und Ressourcen informationstechnisch beispielsweise in einem Core-Hub vernetzt werden können. Auch im Bereich PLAR gibt es einiges zu erforschen; hier geht’s darum Instrumente zu entwickeln, mit denen sich Anrechnungen qualitätsgesichert durchführen lassen.

Welcher Bildungsbereich eignet sich am besten für Open Education?

Nach den Prinzipien von Open Education zu handeln ist immer dann gut, wenn es darum geht, neue Zielgruppen zu erreichen – zum Beispiel Menschen ein Studium zu ermöglichen, die auf konventionellem Wege auf einer normalen Präsenzuniversität aufgrund ihrer Berufstätigkeit oder ihrer familiären Verpflichtungen dazu nicht in der Lage wären. Der aktuelle Digitalisierungshype spielt dem Open Learning sehr in die Hände, weil man über E-Learning, Blended Learning oder MOOCs internationale oder berufsgruppenbezogene Bildungsangebote machen kann, die sonst zeitlich und räumlich eben nicht möglich wären.

„Ein echter Mehrwert wird besonders da geschaffen, wo digitale Medien das Lernen überhaupt erst ermöglichen.“

Zurzeit gibt’s ein Riesenwachstum in berufsbegleitenden Studiengängen und der wissenschaftlichen Weiterbildung. Hier in Oldenburg haben wir zum Beispiel das Zentrum für lebenslanges Lernen mit neun weiterbildenden, berufsbegleitenden Studiengängen, die als Blended Learning laufen. Die Angebote und Teilnahmezahlen gehen stetig nach oben, und das nicht nur in Deutschland. International gesehen ist der Bedarf nach höherer Bildung noch viel größer! Da werden teilweise enorme Wachstumsraten verzeichnet.

Vol (1); Vol (2): Open and Distance Education in Asia, Africa and the Middle East: National Perspectives in a Digital Age

Bei COER haben wir gerade zwei Bücher veröffentlicht, in denen Open and Distance-Learning-Systeme in zwölf verschiedenen Ländern verglichen werden. Darunter sind Länder mit einer ganz langen Tradition im Open and Distance-Learning, wie zum Beispiel Großbritannien oder Russland. Die University of London war 1858 die erste Universität, die für die Leute in den Kolonien ein Fernstudium angeboten hat. Oder die University of South Africa, UNISA, die erste Fernuni in Südafrika. Auch Indien, Australien und China haben viele große Fernuniversitäten. In Australien sind Online-Studiengänge sogar das wichtigste Exportgut im Dienstleistungssektor, denn sehr viele Asiaten streben einen australischen Uniabschluss an. Offen heißt also offen für neue Zielgruppen und Internationalisierung ermöglichend. Und oft muss man Studiengebühren zahlen – Open Education heißt leider nicht, dass das Studium umsonst ist.

Was sind neuralgische Punkte von Open Education?

Weil die Studiengänge räumlich und zeitlich flexibel sind, kommt man automatisch in den Bereich des Technology Enhanced Learning, also der Bildungstechnologie. Auf der institutionellen Ebene zentral sind Innovation und Change Management, denn die Digitalisierung stößt riesige organisationale Veränderungsprozesse an. Und die Frage der Qualitätssicherung natürlich: Sind freie Lernmaterialien genauso gut, wie die, die ich als Professor selbst gemacht habe? Wie können wir die Qualität von sehr großen, offenen Lehrveranstaltungen sichern? An der erwähnten UNISA gibt es z. B. einzelne Module mit 20.000 Studierenden! Das sind ganz wichtige Fragen im Zusammenhang mit Open Education.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Zawacki-Richter!


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver


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