„Open Science ist für mich eine grundsätzliche Einstellung gegenüber Wissenschaft“

Über Erfahrungen beim Einsatz eines digitalen Tools in der sozialwissenschaftlichen Forschung

FRAGEN AN Dr. Isabel Steinhardt von der Universität Kassel, die als Fellow im Programm Freies Wissen ein Projekt zur kollaborativen Online-Interpretation konzipiert und durchgeführt hat. Sie hat ausprobiert, ob man es mit einem selbstentwickelten, digitalen Tool schafft online gemeinsam Gesprächssequenzen zu interpretieren – und was dabei herauskommt. Auf der Basis der virtuellen Forschungsumgebung „Semantic Collaborative Corpora Analysis for Humanities and Social Sciences“, kurz: Semantic CorA, hat sie das Tool kollaborativ Online-Interpretieren (KolloIn) entwickelt und zweimal ausprobiert. Hier erzählt die Sozialwissenschaftlerin von ihren Erfahrungen und Erkenntnissen und warum ihr Open-Science-Praktiken so wichtig sind.

Frau Steinhardt, wie sind Sie darauf gekommen ein Tool für kollaboratives Online-Interpretation zu entwickeln?

Im Grunde hat es damit angefangen, dass ich bei meinen Methodenberatungen an der Universität Kassel immer wieder festgestellt habe, dass viele nicht genau wissen, wie hermeneutische Forschungsmethoden genau funktionieren. Zum Beispiel, dass es darauf ankommt, Interviewsequenzen aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten – und es deshalb sinnvoll ist, Interpretationen in einer Gruppe zu machen. Ich kam also auf die Idee, in einem Mini-Forschungsprojekt zu prüfen, ob man online offen hermeneutisch interpretieren und entsprechend eine solche Interpretationsgruppe auch in den digitalen Raum legen kann. Damit habe ich mich beim Fellow-Programm Freies Wissen beworben. Ausprobiert habe ich das kollaborative Online-Interpretieren mit Interviews aus meinem Forschungsprojekt zu „Nutzung digitaler Technologien für das Studium und Habitus von Studierenden“. Die hier geführten Interviews bildeten das notwendige Material für die Interpretation. Das hat ein paar Ansprüche an mich gestellt: Wie muss eigentlich eine Einverständniserklärung aussehen, damit man die Interviews im Sinne von Open Science offen interpretieren kann? Beispielsweise: Worauf muss ich bei den Interviews achten? Was müssen mir die Studierenden eigentlich unterschreiben, damit alles datenschutzkonform ist? Und dann musste ich ein Tool finden, mit dem ich das überhaupt machen kann.

Hier kam Semantic CorA ins Spiel?

Semantic CorA – eine virtuelle Forschungsumgebung für die Sozialwissenschaften

Ja, denn ich hatte kein Budget, um irgendetwas entwickeln zu können. Die Frage war also, ob ich etwas finde, auf das ich zurückgreifen kann. Nach vielen erfolglosen Recherchen habe ich schließlich bei Wikipedia einen Blogbeitrag über mein Projekt geschrieben mit der Bitte um Unterstützung – und prompt meldete sich jemand aus dem Semantic CorA-Projekt bei mir. Das ist sozusagen meine Open Science Erfolgsgeschichte – wenn man fragt, wird einem geholfen… (lacht). Ich habe mir das angeschaut, und es war genau die Idee die mir noch gefehlt hatte! Zum Glück konnte ich einen Praktikanten gewinnen, der sich ganz intensiv damit beschäftigt hat, wie man diese virtuelle Forschungsumgebung so herunterbrechen kann, dass man damit online kollaborativ interpretieren kann. Mir war es wichtig, ein ganz einfaches Tool für Sequenzanalysen zu haben, in das man sich überhaupt nicht reindenken muss, das intuitiv sofort funktioniert und eine möglichst einfache Oberfläche hat. Dabei ist das Tool KolloIn entstanden!

Können Sie uns erklären, wie sie KolloIn genau eingesetzt haben?

Ich habe eben schon angedeutet, dass ich das Tool KolloIn bisher zwei Mal eingesetzt habe: Erstens in einem Seminar zum Thema „Digitale Medien und Habitus von Studierenden“. Zweitens habe ich getestet, was eigentlich passiert, wenn man solch ein Tool in die Welt setzt und über Twitter oder diverse Mailinglisten dazu auffordert mitzumachen. Ich wollte einfach schauen, ob es mir gelingt, andere Forscherinnen und Forscher dazu zu motivieren mit mir gemeinsam Interviewsequenzen zu interpretieren. Und tatsächlich war es total spannend zu sehen, dass da draußen wirklich Menschen sind, die sowas einfach mitmachen! Es hat sich gezeigt, dass die Interpretation sehr tiefgehend war, weil man sich – anders als in der realen Kontrollgruppe – nicht gegenübersitzt und deshalb mehr Zeit hat, sich auf das Material einzulassen. Was ich auch spannend fand: Bei der Forschergruppe haben sich Personen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und auch Altersstrukturen zusammengefunden, was dazu führte, dass die Interpretation reichhaltiger war.

Bei der kollaborativen Online-Interpretation war die Interpretationstiefe größer, weil man sich mehr mit dem Material auseinandergesetzt hat und weniger mit dem Gegenüber.

Das Gleiche galt auch für die Studierendengruppe, auch hier war die Online-Interpretation anders als die der Vergleichsgruppe. Bei beiden Anwendungen von KolloIn habe ich parallel zur Online-Interpretation die Interviews auch von einer klassischen Interpretationsgruppe, die gemeinsam in einem Raum saß, interpretieren lassen. Deshalb ist es möglich Aussagen über die Interpretationen zu machen. Aber die Feinanalysen laufen da noch.

Wie können wir uns das kollaborative Online-Interpretieren vorstellen?

Das Tool KolloIn ist so aufgebaut, dass eine einzelne Sequenz angezeigt wird. Klickt man diese Sequenz an, öffnet sich ein Fenster, in das man seine Interpretation eintragen kann. Erst wenn das abgeschlossen ist, kann man die Interpretation der anderen sehen und kommentieren. So entsteht Schritt für Schritt eine gemeinsame Interpretation einzelner Sequenzen.

Wie gut hat das funktioniert?

Die Studierenden im Seminar fanden es spannend. Aber sie waren unsicher und hatten Angst vor den Kommentierungen der anderen Interpretationen, weil sie befürchteten sie vielleicht falsch zu verstehen. Für die Zukunft weiß ich also, dass ich mehr Zeit darauf verwenden muss, diese Angst zu nehmen und die Kommentierung vielleicht auch eine verpflichtende Anforderung sein muss.
Da es mir auch nicht darum ging, möglichst viel auf einmal zu interpretieren, habe ich in der Studierendengruppe pro Tag eine Sequenz eingestellt. Bei der Forschergruppe war es alle drei Tage eine – einfach um genügend Zeit zu lassen. Gegenüber dem konventionellen Vorgehen ist bei der Online-Interpretation ja gerade die Unabhängigkeit von Raum und Zeit ein großer Vorteil; bei einigen weiß ich, dass sie die Interpretationen während der Zugfahrt gemacht haben. Insgesamt gab es bei keiner der beiden Gruppen bösartige, nicht wertschätzende Kommentare, das hat mich positiv überrascht. Für mich war das auch ein Teil des Versuchs: Was passiert eigentlich, wenn man Interpretationen für alle zugänglich und einsehbar, also öffentlich, macht?

Haben sich Ihre Erfahrungen denn auf ihre „normale“ wissenschaftliche Arbeit ausgewirkt?

Ich plane schon, das Tool KolloIn und die Erkenntnisse daraus nochmal in ein weiteres Forschungsprojekt einzubinden oder eine Open Educational Ressource daraus zu bauen – es eignet sich einfach gut dazu, hermeneutisches Interpretieren zu illustrieren und zu verdeutlichen. Aber bisher bin ich noch nicht dazu gekommen (lacht). Verändert hat sich auf jeden Fall mein Herangehen an Wissenschaft: Ich beschäftige mich stärker damit, ab wann ich Dinge in die Öffentlichkeit trage. Denn natürlich bin ich noch ganz anders sozialisiert!

„Ich gehe jetzt sehr viel früher mit meinen Ideen raus und sage: „Hallo hier bin ich!“ und „Wer hat Lust mit mir was zu machen?““

Zum Beispiel habe ich ein MOOP gestartet, ein Massive Open Online Paper, (Anm.d.Red.: in Anlehnung an MOOCs, Onlinekurse mit großen Teilnehmerzahlen), um mit Leuten aus aller Welt zusammen an einem Thema zu arbeiten – eine Herangehensweise, die viel spannender ist als alleine an seinem Schreibtisch zu sitzen! Natürlich ist es eine wichtige Frage, wo man was postet. Auf Twitter beispielsweise hat man ja seine eigene Bubble, da bekomme ich bisher eigentlich nur positive Rückmeldungen. Meine Kolleginnen und Kollegen beäugen das aber doch mit gemischten Gefühlen – was sie sich jetzt schon wieder Neues ausgedacht hat!

„Open Science-Praktiken sind in der akademischen Kultur bisher überhaupt nicht verankert.“

Oder als ich angefangen habe zu bloggen, da war das Erstaunen auch groß. Aber immer wenn ich die Nutzerzahlen erwähne, fallen alle aus den Wolken! Man muss unglaublich gegen die bisher gelernten Praktiken ankämpfen, um im Denken etwas zu verändern.

Ist es bei den Studierenden auch so schwierig?

Die Gründe für Open Science leuchten ihnen schon ein, aber der Sprung es dann anders zu probieren ist sehr groß! Das liegt natürlich auch an den anderen Dozentinnen und Dozenten, die noch nicht so weit sind; aber auch an den Curricula, die darauf nicht eingestellt sind. Wenn ich versuche, die Diskussion zu öffnen und mit Studierenden etwas auf Twitter zu stellen oder sie animiere auf Wikiversity neben Seminarplänen oder Exzerpten auch ihre Präsentationen oder Hausarbeiten hochzuladen, lassen sie sich nicht darauf ein.

„Es gibt diese Verunsicherung unter Studierenden, weil wir ihnen keine Fehlerkultur beibringen. Die gibt es an unseren Hochschulen kaum.“

Die Haltung, dass jemand von der eigenen Arbeit profitieren könnte, etwas aufgreift und was Neues daraus macht oder man einfach eine Diskussion anregt, die ist so meilenweit entfernt vom studentischen Alltag. Das ist echt schwierig!

Vielleicht ist Open Science auch erst etwas für Doktoranden oder Postdocs, also nachdem man sich bereits ein Wissensfundament angeeignet hat?

Ich finde, dass man Open Science-Praktiken schon im Studium vermitteln muss – im Sinne von: Man darf fragen! Man darf Fehler machen! Es ist nicht schlimm öffentlich zuzugeben, dass man etwas nicht weiß! Das ist ja die kulturelle Veränderung: Man darf Sachen nutzen und sie verändern, es ist nur wichtig dass man sagt was man getan hat.

„Für mich heißt Open Science, Wissenschaft auch kritisch hinterfragen zu können.“

Wenn wir Studierenden, die nicht in der Wissenschaft bleiben, das nicht beibringen, werden sie nie lernen wie Wissenschaft funktioniert; sie werden immer die Vorstellung eines geschlossenen Systems haben, in dem Fakten, von denen man im Grunde nicht weiß, wie sie zustande gekommen sind, auswendig gelernt werden. Wenn sie aber die Grundprinzipien der Erkenntnisgewinnung verstehen und sie als Ingenieure oder Banker oder was auch immer in die Gesellschaft hinaustragen, dann hätten wir viel gewonnen!

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Steinhardt!

________________________________________________________________________

Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver

________________________________________________________________________

Auch noch interessant

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert