Bildungsberatung (5): Beratung mit und für Migranten und Migrantinnen
Was macht man, wenn man neu in Deutschland ist und versucht, sich hier ein neues Leben aufzubauen? Woher bekommt man Informationen und Orientierung? Zum Beispiel zu Deutschkursen? Oder zu grundsätzlichen Möglichkeiten, wieder in seinen Beruf einzusteigen oder einen zu erlernen? Wie macht man das, wenn man auch noch Geld verdienen muss? Und was macht man mit seinen Kindern? Für solche Fragen haben ratsuchende Migrantinnen in Frankfurt am Main eine erste Anlaufstelle – beramí. Der Frankfurter Verein begleitet seit 1990 Migrantinnen und Migranten bei der Entwicklung einer beruflichen Perspektive und bietet dabei ein ziemlich vielfältiges Spektrum an Unterstützung. Unter anderem die Offene Beratung, die Berufswegeplanung, die Anerkennungsberatung und die Qualifizierungsberatung. Dafür greift der Verein auf ein großes Netzwerk und alles in allem 43 Mitarbeiterinnen zurück, die übrigens insgesamt 18 Sprachen sprechen.
INTERVIEW mit Yasemin Yüksel-Sezginer, die bei beramí als Projektleiterin für die Berufswegeplanung, die Bildungsberatung und das Qualitätsmanagement verantwortlich ist. Mit der dienstältesten Mitarbeiterin – sie ist seit 26 Jahren bei beramí – sprachen wir über das Selbstverständnis der Einrichtung, die stetig wachsenden Beratungsangebote und das stabile Netzwerk des Vereins.
Frau Yüksel-Sezginer, wodurch zeichnet sich die Bildungsberatung bei beramí aus?
beramí steht für Chancengleichheit, Gleichberechtigung, Teilhabe und Akzeptanz von Vielfalt. Unser Ziel ist es, Männer und Frauen mit Migrationshintergrund und Migrationserfahrung oder mit Fluchterfahrung in den Arbeitsmarkt zu integrieren – gemäß ihren Qualifikationen und Lebensumständen.
„Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt der Beratungen. Es ist wichtig, ihn mit seinem Anliegen, seinen Ressourcen und in seinen Lebensumständen zu sehen.“
Wir unterstützen sie dabei, ihre Potenziale, Ressourcen und Kompetenzen zu entdecken und bieten ihnen Orientierung, damit sie ein ökonomisch unabhängiges Leben in Deutschland führen können.
Wie sieht so eine Beratung klassischerweise aus?
In der Beratung für Arbeit, Bildung und Beruf haben wir es mit erwachsenen Männern und Frauen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichem Bildungsniveau und in unterschiedlichen Lebensumständen zu tun. In einem gemeinsamen Prozess und Verfahren zur Kompetenzfeststellung schauen wir nach den Ressourcen und Qualifikationen der Ratsuchenden und unterstützen und motivieren sie. Über Sprachstandsanalysen ermitteln wir die Deutschkenntnisse und vermitteln die Ratsuchenden dann entweder in einen Sprachkurs oder in entsprechende Qualifizierungsprogramme der Arbeitsagentur, des Jobcenters oder der Industrie- und Handelskammer. Daneben bieten auch unser Vorbereitungskurs auf die Ausbildung zur Erzieherin/zum Erzieher, unsere Mentoring-Programme oder das integrierte Fach- und Sprachlernen in unserem Ready-Steady-Go–Programm, eine Brückenmaßnahme für Wirtschaftswissenschaftler mit ausländischem Abschluss in Kooperation mit der Frankfurt University of Applied Sciences, Optionen zur beruflichen Weiterentwicklung. Die Möglichkeiten und der Erfolg sind individuell natürlich unterschiedlich – und manchmal gibt es auch unrealistische Vorstellungen seitens der Ratsuchenden.
Wie gehen Sie mit den sprachlichen Hürden um?
Wenn Ratsuchende mit Fluchterfahrung in die Beratung zu uns kommen, beherrschen sie Deutsch meist nur auf A1- oder A2-Niveau. Wir versuchen dann, eine möglichst einfache Sprache zu verwenden oder arbeiten mit Bildern. Manchmal werden Freunde und Verwandte zum Dolmetschen mitgebracht. Wenn es um die Berufswegeplanung geht, vereinbaren wir telefonisch einen Termin; bemerken wir hier Sprachschwierigkeiten, bitten wir Kolleginnen, die diese Sprache beherrschen, zum vereinbarten Gesprächstermin dazu. Insgesamt können wir in unserem Team auf 18 unterschiedliche Sprachen zugreifen, darunter spanisch, italienisch, türkisch, arabisch, tigrinya und amharisch (lacht).
Haben Sie ein Beispiel?
Vor einigen Jahren kam eine hochqualifizierte Frau zu mir in die Beratung, die – ursprünglich aus Afghanistan kommend – in Russland Medizin studiert hatte und dann nach Deutschland geflüchtet ist. Und weil es damals kaum Anerkennungsverfahren für Berufs- oder Hochschulabschlüsse im Ausland gab, mussten wir Schritt für Schritt vorgehen: Sie musste also erst mal Sprachkurse besuchen, um ihre Deutschkenntnisse auf das erforderliche C1-Niveau zu bringen. Parallel dazu haben wir gemeinsam einen „Bildungsplan“ erarbeitet, der ihre familiären Verpflichtungen und ihre Arbeitszeiten als Verkäuferin unter einen Hut bringen musste – aufgrund ihrer Qualifikation konnte sie nicht als Helferin im Krankenhaus arbeiten. Es war ein wirklich langwieriger Prozess, bis sie 15 Jahre später dann endlich in Deutschland als Ärztin arbeiten konnte. Heutzutage gibt es formale Anerkennungsverfahren, und es geht zum Glück alles schneller.
Wie hat sich die Bildungsberatung in den letzten Jahren verändert?
Als wir in den 90er Jahren anfingen, haben wir nur mit Frauen gearbeitet. Die meisten davon stammten aus klassischen Einwanderungsfamilien aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien. Oft hatten sie nur einen Grund- und Hauptschulabschluss und kaum Kenntnisse über das deutsche Bildungssystem; aufgrund ihrer geringen beruflichen Qualifikationen mussten sie entweder als An- und Ungelernte in der Produktion arbeiten oder waren Hausfrauen. Seit ungefähr 10, 15 Jahren kommen vermehrt Geflüchtete und Angeheiratete, die zum Teil schon länger hier leben. Letztens kam eine Fachkraft für Abwassertechnik zu mir in die Beratung. Ihr konnten wir nicht nur Deutschkurse, sondern über unser Mentoring-Programm parallel auch ein Praktikum in einer einschlägigen Firma vermitteln.
Ehrenamtliche Mentorinnen und Mentoren aus den unterschiedlichsten Branchen und Institutionen unterstützen Akademikerinnen und andere hochqualifizierte Frauen mit Migrationshintergrund.
Auch Berufsrückkehrerinnen nach der Elternzeit unterstützen wir dabei, ihren Platz in der Arbeitswelt in Deutschland zu finden. Zum Beispiel eine Ratsuchende, die in der Türkei Statistik studiert und danach in einer Bank gearbeitet hatte. Nach ihrer Heirat nach Deutschland – ein fast klassischer Fall – suchte sie hier nach beruflichen Möglichkeiten. Schon nach der Erstberatung konnte ich sie in das Mentoring-Programm „Einsteigen, Umsteigen, Aufsteigen“ vermitteln. Unterstützt von ihrer Mentorin absolvierte sie zunächst ein Praktikum in einer großen deutschen Bank und arbeitet heute, so wie früher in der Türkei, wieder in einer Bank. Übrigens ist das nicht das einzige Angebot: Bei beramí koordinieren wir auch das NeW Netzwerk Wiedereinstieg, das Frauen beim beruflichen Wiedereinstieg begleitet und dem acht Bildungsanbieter aus Hessen angehören.
Bildungsberatung beim Deutschen Bildungsserver
In unserem Dossier „Bildungsberatung: Wege durch das deutsche Bildungssystem“ haben wir Informationen und Möglichkeiten der Beratung zusammengetragen. Und da Beratungsbedarf entlang der (Bildungs-)Biografie entsteht und an den verschiedenen Stationen im Bildungssystem unterschiedlich ausgeprägt ist, orientieren sich unsere Informationen vorrangig am Bildungsverlauf und sind nach Bildungsbereichen bzw. entsprechenden Übergängen gegliedert.
Flüchtlinge in Deutschland – Bildungsaspekte im Fokus
Für die Integration von Flüchtlingen ist Bildung von zentraler Bedeutung. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche. Die folgende Linksammlung zeigt Möglichkeiten der formellen und informellen Bildung für Flüchtlinge auf und enthält Informationen zu:
- Flüchtlingskinder in Kitas und Schulen
- Deutschunterricht und Sprachförderung
- Berufsausbildung und Arbeitsmarktzugang
- Studienmöglichkeiten
- Sozialarbeit mit jungen (unbegleiteten) Flüchtlingen
- Unterrichtsmaterial zum Thema Flucht und Migration
- Zahlen, Fakten und Institutionen zum Thema Flucht und Asyl
Weiterbildungsberatung
Um eine passende Weiterbildung zu finden, die den eigenen Wünschen und Zielen entspricht und die auch in den Alltag passt, kann eine Beratung sehr hilfreich sein. Oft werden die eigenen Vorstellungen, Umstände und Voraussetzungen erst im Austausch oder mit Hilfe von Anleitungen deutlich. Es gibt inzwischen eine breite Palette an Beratungsmöglichkeiten, die vom kostenlosen Telefonservice über direkte Beratungsstellen vor Ort bis hin zu einem Internettool reichen, das virtuelle Unterstützung bei der Suche nach einer geeigneten Weiterbildung bietet.
Unterscheiden sich die Beratungssituationen zwischen Einwanderern der zweiten von denen der ersten Generation?
Auch meine Eltern kamen als Arbeitsmigranten nach Deutschland und waren weder mit dem Bildungssystem noch mit der Arbeitswelt hier vertraut. Sie waren sehr stolz darauf, dass ich mein Studium in Deutschland erfolgreich absolvierte. Für mich ist deshalb wichtig, dass Integration immer auf beiden Seiten stattfindet – und das möglichst früh. Deshalb empfehle ich Eltern, sich schon im Kindergarten einzumischen, zum Beispiel als Elternbeiräte, und wann immer möglich nachzufragen. Denn nur so lernen sie die Strukturen und Regeln kennen und können am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Und wie sieht es heute aus?
Im Vergleich zur ersten Einwanderergeneration haben wir heute vermehrt sogenannte „Heiratsmigrantinnen“ in unserer Beratung. Aus Marokko, der Türkei, Tunesien oder Ex-Jugoslawien stammende Männer heiraten häufig Frauen aus ihren Herkunftsländern; auch Männer aus Deutschland lernen ihre Frauen oft bei beruflichen Auslandsaufenthalten beispielsweise als Kolleginnen in Lateinamerika, Asien oder Afrika kennen. In beiden Fällen ist der qualifikationsadäquate Berufseinstieg in Deutschland auch für gut bis hochqualifizierte Frauen oft schwierig. Sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren und dabei zu unterstützen, persönlich und finanziell selbstständig zu bleiben, ist sehr wichtig.
Was ist für Sie ein Erfolg in der Beratung?
Unser Ziel ist nicht, quantitativ zu messen – also sagen zu können, dass wir 99 Prozent der Ratsuchenden in Arbeit und Qualifizierungsmaßnahmen vermitteln. Wir wollen die Menschen, die zu uns kommen, ihren Lebensumständen, Qualifikationen und Möglichkeiten gemäß beraten und sie dabei unterstützen, einen gangbaren Weg für sich selbst zu finden. Da gehören auch viele andere Bereiche des Lebens dazu, wie zum Beispiel eine passende Kinderbetreuung zu finden oder die Finanzierung der Deutschkurse. Wenn ich also Ratsuchende in ihren Anliegen unterstützen und sie schrittweise gezielt in ein Training vermitteln kann, ist das für mich ein Erfolg.
Was würden Sie anderen Einrichtungen der Bildungsberatung für Migranten auf den Weg geben?
Sehr wichtig ist es, auf die Qualität der Beratung zu achten und das professionelle Niveau zu halten. Wir bei beramí haben fast alle eine systemische Ausbildung und bilden uns kontinuierlich fort. Als Einrichtung bieten wir auch selbst Fortbildungen für andere Träger an. Dabei ist es uns wichtig, die Grundsätze unserer Bildungsberatung zu vermitteln: Unterstützen und motivieren, um versteckte Ressourcen herauszuarbeiten und Hemmungen zu überwinden. Ratsuchende sind Experten ihrer Situation und sie zu stärken und dabei zu unterstützen, ihre Ressourcen zu entdecken und auszuschöpfen, ist unser Anliegen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Yüksel-Sezginer!
Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver.
Weitere Beiträge in der Reihe „Bildungsberatung“
- Bildungsberatung (6): Schulberatung mit multiprofessionellem Team, intensivem kollegialen Austausch und systemischem Ansatz. INTERVIEW mit Ute Wiegand, Leiterin des ReBUZ Ost, eines der vier nach Himmelsrichtungen gegliederten schulbezogenen Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren in Bremen.
- Bildungsberatung (4): „Viele Jugendliche sind heute tendenziell überfordert, sich für einen Berufsweg zu entscheiden.“ FRAGEN AN Annette Paßlack, Berufsberaterin für akademische Berufe bei der Arbeitsagentur, die wie das Jobcenter, die Behörde für Schule und Berufsbildung und die bezirkliche Jugendarbeit zur Hamburger Jugendberufsagentur gehört.
Bildungsberatung (3): Niedrigschwellig und ergebnisoffen: Aufsuchende Beratung in Alphabetisierung und Grundbildung. INTERVIEW mit Tim Henning, Projektleiter am Standort Münster über die Arbeit des ALFA-Mobils - Bildungsberatung (2): „Beratung ist viel selbstverständlicher geworden – auch die Studienberatung an Hochschulen“. INTERVIEW mit Martin Scholz, der an der Leibniz-Universität Hannover die Studienberatung leitet und gleichzeitig Vorsitzender der Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen (GIBeT) ist.
- Bildungsberatung (1): Wie steht es um die Qualität der Bildungsberatung? DAS WORT HAT…..Karen Schober, Vorsitzende des Nationalen Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung e.V. (nfb) und Mitautorin der Broschüre „Professionell beraten: Qualitätsstandards für die Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung“.
Ein gutes Interview von Fr. Yüksel-Sezginer. Inbesondere das Mentoring-Programm ist interessant, da es bei vielen Menschen, ungeachtet dessen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, es oft am Mindset scheitert und da wurde bislang zu wenig angesetzt.
Kann mich meinem Vorredner nur anschließen. Ein wirklich tolles Interview von Frau Yüksel-Sezginer. Unglaublich das die die Anerkennung aus dem Beispiel 15 Jahre gedauert hat – das ist hoffentlich nur ein extremer Einzelfall. Natürlich sollte umfassend geprüft werden, aber das ist schon heftig. Und das ausländische Qualifikationen pauschal erstmal schlechter sein müssen, gehört glaube ich auch der Vergangenheit an.
Ich interessiere mich immer für Bildungsberatung überhaupt. Also vielen Dank für weitere Beiträge.