„In Förderprogrammen zur Medienkompetenz wird die Soziale Arbeit einfach nicht adäquat berücksichtigt“

Verständnis für Risiken und Potenziale von Technologien extrem wichtig

In Folge drei unserer Reihe zur Förderung von Medienkompetenz erläutert Isabel Zorn von der TH Köln, welche Medienkompetenzen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in einer zunehmend digitalen Gesellschaft benötigen.

Prof. Dr. Isabel Zorn forscht und lehrt am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik (IMM) der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln

INTERVIEW mit Isabel Zorn, die gemeinsam mit ihren Kolleginnen Friederike Siller und Angela Tillmann der TH Köln das „Sechs-Dimensionen-Modell zur Medienpädagogischen Kompetenz für Fachkräfte der Sozialen Arbeit“ entwickelt hat. Im Interview erläutert sie das Modell, erklärt warum Medienkompetenz mit so vielen anderen Themen der Sozialen Arbeit konkurriert und was das mit dem Bachelor „Soziale Arbeit“ zu tun hat.

Frau Zorn, wie ist es um die Medienkompetenz von Fachkräften in der Sozialen Arbeit bestellt?

Sehr unterschiedlich. Es gibt unter den Fachkräften in der Sozialen Arbeit sehr engagierte und auch sehr kreative Fachkräfte, die erkannt haben, welche Potenziale digitale Medien für die Aufgabenerfüllung in der Sozialen Arbeit bieten. Andererseits gibt es auch viele Fachkräfte, die den Beruf der sozialen Arbeit bewusst gewählt haben, weil sie gerne mit Menschen arbeiten. Das beinhaltet oft auch eine unbewusste Haltung, nicht so gerne mit Maschinen und digitalen Tools arbeiten zu wollen. Es ist bedauerlicherweise also sehr vom Zufall abhängig, von welchen Fachkräften Klientinnen in der Sozialen Arbeit sie betreut werden. Da gibt es eben Kolleginnen und Kollegen, die sehr interessante mediale Angebote machen, und andere, die sich auf traditionelle Methoden fokussieren.

In der Sozialen Arbeit hat man es ja mit sehr unterschiedlichen Menschengruppen zu tun. Sind beispielweise Fachkräfte, die mit Jugendlichen arbeiten kompetenter im Umgang mit Medien als diejenigen, die mit älteren Menschen zu tun haben?

Dazu existieren leider keine Studien. Meinem Eindruck nach ist vor allem in der Jugendarbeit der Druck hoch, digitale Medien in die Arbeit einzubinden und sich Kenntnisse über Problematiken mit Medien anzueignen. Die Probleme sind hier – man denke nur an Cybermobbing, Cybergrooming oder sexuelle Belästigung – auch sehr viel deutlicher. Und beim stationären Wohnen von Jugendlichen ergeben sich ganz andere Kontaktsituationen als früher. Manchmal gibt es ja aus guten Gründen Kontaktverbot zu Eltern oder bestimmte Zeiten, in denen Eltern nicht mit ihren Kindern kommunizieren sollen – die können über WhatsApp leicht umgangen werden. Damit solche Kontaktverbote oder -einschränkungen nicht ausgehebelt werden, braucht es sinnvolle Regelungen und Strategien für die Umsetzung. Das heißt meiner Erfahrung nach aber nicht, dass die Leute in der Jugendsozialarbeit medienpädagogisch besser ausgebildet werden, als Fachkräfte in anderen Bereichen.

In der Ausbildung wird also keine Medienkompetenz vermittelt?

Mir fallen zwar ältere Studien ein, in denen analysiert wurde, was in Fachhochschulen an Ausbildung im Bereich Medienbildung, Medienkompetenz, Förderung von und Auseinandersetzung mit digitalen Medien in der Sozialen Arbeit angeboten wird, doch ist die Informationslage dünn. Allerdings passiert aktuell viel: An sehr vielen Hochschulen sind derzeit Professuren im Bereich Digitalität und Soziale Arbeit ausgeschrieben. Das lässt hoffen. Aber man muss prüfen, wie das Thema Medienkompetenz in den Modulplänen verankert ist. Leider sind in der Sozialen Arbeit sehr viele Themen von enormer Dringlichkeit, man denke nur an die zunehmende Armut in Deutschland oder an sexualisierte Gewalt!

„Die Auseinandersetzung mit Digitalität steht in Konkurrenz mit anderen für künftige Fachkräfte sehr wichtigen Ausbildungsangeboten.“

Und wir wollen keine Absolventinnen, die in den anderen Bereichen zu wenige Kenntnisse haben. An vielen Hochschulen gibt es deshalb nur ein sehr schmales Pflichtangebot für die Auseinandersetzung mit einer mediatisierten Gesellschaft oder lediglich Angebote im Wahlpflichtbereich. Das bedeutet, dass sogar in der TH Köln, die mit mehreren Professuren für Soziale Arbeit gut ausgestattet ist, viele Absolventinnen mit dem Thema höchstens in einer Vorlesung in Berührung kommen.

Woran liegt es, dass so viele wichtige Themen schon in der Ausbildung miteinander konkurrieren?

Es ist schon kritisch zu sehen, dass man von einem „Diplomstudiengang Sozialarbeit“ zu einem „Bachelor Sozialarbeit“ gewechselt hat. Ob man nach neun oder 10 Semestern staatlich geprüfte Sozialarbeiterin ist, oder schon nach sechs oder sieben Semestern, macht einen Unterschied! Mit der gekürzten Studiendauer hat sich auch die Breite und Tiefe der Ausbildung reduziert.

Über welche medienpädagogischen Kompetenzen sollten Fachkräfte der Sozialen Arbeit verfügen?

Angela Tillmanns, Friderike Siller und ich haben ein für Lehrkräfte in der Schule entwickeltes Kompetenzmodell auf die besonderen Herausforderungen in der Sozialen Arbeit hin angepasst. Unser Modell hat sechs Dimensionen und zielt auf die Aufgabenerfüllung der Sozialen Arbeit ab – also das Erreichen von Chancengleichheit, das Fördern von Teilhabe oder das Ermöglichen von neuen Zugängen zu Ressourcen, die Menschen zur Verfügung stehen, um ihr Leben wirklich selbstbestimmt zu leben. Diese zentralen Aufgaben sollten daraufhin geprüft werden, ob und wann sie möglicherweise gut oder besser mithilfe von digitalen Medien erfüllt werden können. Um das beurteilen und einschätzen zu können, brauchen Sozialarbeiter Kenntnisse über die mediatisierte Gesellschaft und die Lebenswelt ihrer Klienten. Und natürlich die eigene Medienkompetenz. Davon ausgehend benötigen sie außerdem die Kompetenz, als Fachleute ihr Handlungsfeld einzuschätzen – sei es in der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe, der Seniorenhilfe oder der Obdachlosenhilfe – und zu analysieren, was es in diesem Handlungsfeld braucht.

Grafik Medienpädagogische Kompetenz in der Sozialen Arbeit.

Abb.: Sechs-Dimensionen-Modell zur Medienpädagogischen Kompetenz als Orientierungsrahmen, in „Handbuch der Sozialen Arbeit“ (S. 327)

 

Das waren jetzt drei von insgesamt sechs Dimensionen.

Man sollte als Sozialarbeiterin auch die Möglichkeiten der Umfeldsteuerung kennen. Sie ermöglicht beispielsweise bei schwer mehrfach-behinderten Menschen aufzuzeigen, wie entsprechende Technologien eingesetzt und wie das Umfeld adäquate Kompetenzen für den Umgang damit erwerben kann.

Digitale Technologien können mehr Teilhabe, mehr Chancengleichheit und selbstbestimmteres Leben unterstützen.

Damit kommen wir zur fünften Kompetenz: Die Vermittlung von Medienkompetenz an die Adressatinnen und, ganz wichtig, das Eröffnen und Gestalten von Medienbildungsräumen. Welche Bildungsräume benötigen Menschen mit bestimmten Behinderungen? Welche benötigen obdachlose Menschen, die vielleicht wissen wollen, wo es heute noch Plätze in einer nahegelegenen Schlafstätte gibt, und die womöglich auch noch den Hund zulässt? Wie muss ich bestimmte Formulare ausfüllen? Wo kann ich mich weiterbilden? Das sind Themen für Medienbildungsräume, die sehr stark und zunehmend auch durch Medien gestaltet werden. Und die sechste Kompetenz ist die Gestaltung der Organisation: Einrichtungen der Sozialen Arbeit sind ja nicht unbedingt optimal mit technischer Infrastruktur ausgestattet. Nicht zuletzt die Covid-Pandemie hat gezeigt, dass zu wenig W-LAN-Zugänge und zu wenig Geräte in den Einrichtungen verfügbar sind. Dazu kommt, dass die Medienkompetenzen der Mitarbeitenden nicht ausreichend sind. Es ist also wichtig, die Fachkräfte dazu zu befähigen, die eigene Einrichtung handlungsfähig zu machen. Beispielsweise indem man lernt, wen man ansprechen muss, wo man Gelder beantragen kann oder welche rechtlichen Rahmenbedingungen herrschen, um mit entsprechenden Technologien zu arbeiten.

Werden Medienkompetenz oder Kenntnisse, wie digitale Tools in der Sozialen Arbeit eingesetzt werden können, letztlich im learning-by-doing erworben?

Leider haben wir keine Studien dazu, was Fachkräfte der sozialen Arbeit wo lernen. Was man jedenfalls nicht hoffen kann ist, dass die neue junge Generation automatisch die benötigte Medienkompetenz für die fachliche soziale Arbeit mitbringt. Das ist keine Generationenfrage! Vielmehr braucht es ein sehr grundlegendes Verständnis davon, was Technologien können, wo ihre Risiken liegen und worin Potenziale für die Aufgabenerfüllung liegen; auch Datensicherheit und Datenschutzes müssen gewährleistet werden. Und in der konkreten Arbeitssituation muss dann geklärt werden, was das für das eigene Handlungsfeld, für die Klienten und die Spezifik der Einrichtung bedeutet. Kurz: Man braucht die Expertise im Feld. Zu meinen, all das käme schon von alleine, ist mit Sicherheit sehr problematisch!

Weiterführende Infos zum Thema Medienkompetenz und Soziale Arbeit

Nehmen wir mal die Seniorenhilfe als konkretes Beispiel. Hier könnte doch schon der Hinweis auf Facebook-Gruppen ganz interessant sein.

Ja, das wäre ein Beispiel für die Dimension „Eröffnen von Bildungsräumen“. Hier wäre es aber notwendig, zu eruieren, welches denn der geeignete Bildungsraum für die Senioren ist. Wäre es bei Facebook diese oder jene Gruppe? Oder könnte man sich auch über YouTube-Filme organisieren? Oder gibt es vielleicht passende Senioren-Kinder-Projekte? Und welche Datenschutzproblematiken tauchen in den jeweiligen digitalen Bildungsräumen auf?

„In der Sozialen Arbeit dürfen Menschen nicht stärker eingeschränkt werden als sie das in ihrem Privatleben tun würden.“

Ein großes Risiko liegt meiner Ansicht nach darin, dass in der Praxis keine mediale Infrastruktur zur Verfügung steht. Engagierte Sozialarbeiterinnen stellen in Wohneinrichtungen beispielweise ihr eigenes Handy zur Verfügung, damit alte Menschen in Video-Calls über WhatsApp mit ihren Familienangehörigen in Kontakt bleiben können – eine gute und bewundernswerte Absicht, ihnen Teilhabe zu ermöglichen. Im Nachhinein tauchen dann aber Probleme auf: Die Telefonnummern können von allen eingesehen werden, man kann nachvollziehen, wer wann online ist; auch können Telefonnummern weitergegeben werden, oder sie werden nicht datenschutzgerecht gelöscht und bleiben so lange auf dem Handy, wie es in Betrieb ist. Durch fehlende Strukturen entstehen also erst viele Probleme.

Provokativ formuliert: Eine Förderung der Medienkompetenz findet in der Sozialen Arbeit also nicht statt?

Dass die Medienkompetenz pädagogischer Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung, in Schule und Hochschule, in der beruflichen Bildung und der Erwachsenenbildung stärker gefördert werden muss, ist eigentlich gesellschaftlicher Konsens; das spiegelt sich auch in den vielen Förderprogrammen wieder, in denen aber leider immer wieder die non-formale Bildung und die soziale Arbeit vergessen werden. Sie wurden lange Jahre in den Förderprogrammen einfach nicht adäquat berücksichtigt. Deshalb fordern meine Kolleginnen Angela Tillmann, Friederike Siller und ich auch immer wieder ein, dass man die non-formale Bildung und die Soziale Arbeit bei den Bildungsbereichen mitdenken und auch entsprechend finanziell ausstatten muss.

Bei Sozialarbeit denkt man wahrscheinlich weniger an Bildung als an Betreuung und Fürsorge?

Mag sein, aber die Eröffnung und Gestaltung von Medienbildungsräumen in der Sozialen Arbeit ist extrem wichtig. Unsere Aufgabe ist es doch, den Menschen neue Ressourcen und Wege zu zeigen, wie sie selbstbestimmt Herausforderungen angehen und sich weiter entwickeln können! Das lässt sich nicht mehr nur dadurch lösen, dass man ihnen Volkshochschulkurse anbietet. Wir müssen ihnen zeigen, wo sie Bildungsräume für ihr jeweiliges Thema finden, seien es tolle Youtube oder Vimeo-Filme, gute Facebook-Gruppen oder andere Online-Angebote. Was im Internet – jenseits aller Strukturen – an Bildungsmöglichkeiten zu finden ist, ist wirklich beeindruckend. Egal, ob es um ein Hobby, um eine Bewerbung oder um Wohnungssuche geht, man muss unbedingt wissen, wie das geht und wo man im Internet etwas dazu findet.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Zorn!


Prof. Dr. Isabel Zorn forscht und lehrt am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik (IMM) der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln. Sie ist Mitglied der DGSA-Fachgruppe Soziale Arbeit und Digitalisierung und gemeinsam mit Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller und Angela Tillmann Mitherausgeberin des beim BELTZ-Verlag erschienenen „Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung“.


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver.

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