„Die digitalen Kompetenzen älterer Menschen wurden bislang nicht systematisch in den Blick genommen“

Ein Plädoyer für diversitätssensible und intersektionale Konzepte in der Alternsbildung

Prof. Dr. Anja Hartung-Griemberg von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg erklärt, warum die Auseinandersetzung mit Bildung und Medienbildung im höheren Lebensalter überfällig ist und welche Rolle diversitätssensible und intersektionale Konzepte dabei spielen.

Anja Hartung-Griemberg, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Prof. habil. Dr. Anja Hartung-Griemberg, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

INTERVIEW mit Anja Hartung-Griemberg von der Pädagogische Hochschulen Ludwigsburg über die lange vernachlässigte Förderung digitaler Kompetenzen älterer Menschen. Sie betont die drängende Notwendigkeit, die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung und Medienbildung im höheren Lebensalter anzuerkennen und unterstreicht die Unumgänglichkeit von diversitätssensiblen und intersektionalen Konzepten in der Alternsbildung, um sozialen Ungleichheiten im Umgang mit digitalen Medien entgegenzuwirken. Das Interview bietet Einblicke in den aktuellen Stand der Forschung und skizziert Handlungsbedarfe für eine zukunftsweisende Medienbildung im höheren Lebensalter.

Frau Hartung-Griemberg, spätestens seit der Corona-Pandemie geraten auch die Medienkompetenzen Älterer in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wie schätzen Sie hier den Stand der Auseinandersetzung ein?

Die Auseinandersetzung ist überfällig! Nach wie vor wird dem gesellschaftlichen Stellenwert von Bildung in der Nacherwerbsphase – und dazu gehört auch Medienbildung! –  weder in politischen Diskursen oder im politischen Handeln noch in der pädagogischen Praxis hinreichend Rechnung getragen. Im Kontext der pädagogischen Kinder- und Jugendmedienforschung hat sich eine vielschichtige und vielgestaltige Forschungslandschaft entwickelt. Der Forschungsstand in Hinblick auf das höhere Lebensalter ist nach wie vor überschaubar. Das Medienhandeln und die Medienkompetenzen älterer Menschen wurden bislang nicht kontinuierlich und systematisch in den Blick genommen, sondern punktuell, von unterschiedlichen Fachexpertisen und mit je unterschiedlichen Leitbegriffen. Besonders deutlich wird dies an den Perspektiven der Geragogik und der Medienpädagogik. Beide haben sich aus ihren je eigenen fachspezifischen Zugängen heraus mit älteren Menschen unter den Bedingungen der fortschreitenden Mediatisierung und Digitalisierung auseinandergesetzt, obwohl es viele Schnittmengen gibt. Hier ist es an der Zeit, fachübergreifend Modelle für die Medienkompetenzförderung Älterer zu entwickeln. Dem vorausgesetzt ist freilich eine Forschungspraxis, welche die Voraussetzungen und Bedürfnisse älterer Menschen in ihrer Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit kontinuierlich und systematisch in den Blick nimmt. Die Debatten um das höhere Alter sind nach wie vor durch eine problematische Homogenisierung gekennzeichnet. Wenn es um Kinder und Jugendliche geht, ist die Notwendigkeit der Binnendifferenzierung ein Allgemeinplatz. Beim Alter tut man sich damit schwer. Eine differenzielle Sicht aber ist für eine angemessene und bedarfsadäquate Betrachtung der Altersphase unerlässlich. Viele Ältere, gerade im dritten Lebensalter ab dem 60. Lebensjahr nutzen digitale Medien ganz selbstverständlich. Sie haben mit ihnen bereits eine Berufsgeschichte und möchten die Vorteile der digitalen Medien auch in der Nacherwerbsphase nicht missen. Entsprechend sind sie auch motiviert, Neues zu lernen.

„Das chronologische bzw. kalendarische Lebensalter sagt wenig über die Aufgeschlossenheit älterer Menschen gegenüber digitalen Medien aus.“

Aber es wächst auch der Anteil derjenigen, für die sich die Möglichkeiten der Teilhabe in starkem Maße einengen. Das sind Menschen, die eben nicht über das gesundheitliche, finanzielle und kulturelle Kapital verfügen und deshalb auf Unterstützung angewiesen sind – Hochaltrige, ältere Migrant*innen, von Armut betroffene Ältere, Ältere mit gesundheitlichen Einschränkungen und hochaltrige Frauen.

„Um sozialen Ungleichheiten im Umgang mit digitalen Medien zu begegnen ist eine diversitätssensible und intersektionale Perspektive unerlässlich.“

Wie können diese unterschiedlichen Zielgruppen angemessen angesprochen werden?

Da sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an. Zunächst ist es ganz entscheidend, wie Ältere als Lernende thematisiert und adressiert werden. Über das Verhältnis älterer Menschen zu Medien und digitalen Innovationen kursieren stereotype Vorstellungen. Zugespitzt lautet die populäre Leseart: Alte Menschen sind Fremde in einer digitalen Lebenswirklichkeit. Ihre mangelnde Befähigung im Umgang mit dem digitalen „Betriebssystem“ der Gesellschaft ist ein Problem, das es zu beheben gilt. Das ist schlichtweg entmutigend. Es ist davon auszugehen, dass dieses defizitäre Altersbild auch das Selbstbild und die Selbstwirksamkeitserwartungen älterer Menschen beeinflussen. Hier bedarf es differenzierterer Auseinandersetzungen, die das Selbstvertrauen in die Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten des alternden Menschen stärken. Es überrascht nicht, dass Expert*innen in der Bildungsarbeit mit Älteren mitunter bewusst auf pädagogische Begriffe wie Lernen oder Bildung verzichten. Denn sie können mit Leistungsanforderungen und Versagensängsten assoziiert werden, aber auch den Selbstargumenten vieler Älterer Vorschub leisten, dass entsprechende Lernerfahrungen altersbedingt nicht mehr möglich sind. In der Psychologie wird dieser Effekt mit Stereotype-Threat-Theorie erklärt. Damit ist die Angst gemeint, die Menschen in einer Situation empfinden, in der sie anhand negativer Zuschreibungen bewertet werden, beziehungsweise die Sorge, diese Stereotype durch ihr eigenes Verhalten zu bestätigen.

Welche Bedarfe sehen Sie für die konkrete Förderpraxis?

Für den Erwerb digitaler Medienkompetenzen braucht es passende Gelegenheiten. Das beginnt bereits bei der Frage nach der Verfügbarkeit bedarfsadäquater Angebote. Ein Bedarf an Unterstützungsangeboten besteht besonders bei Menschen, die von pädagogischen Maßnahmen nur schwer erreicht werden. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Unsere Studien haben gezeigt, dass älteren Migrant*innen die Existenz lokaler Weiterbildungsangebote vielfach unbekannt ist. Auch stellen hier Unsicherheiten angesichts der Verständigungsschwierigkeiten bereits eine erste Hürde dar. Hier gilt es, niedrigschwellige Angebote zu entwickeln, die außerhalb institutionalisierter Angebotsstrukturen möglichst offen, unbürokratisch und „just in time“ in Anspruch genommen werden können. Dazu müssten Bildungsträger stärker als bislang mit anderen Institutionen wie beispielsweise Migrant*innen-Selbstorganisationen zusammenarbeiten und auch politische Unterstützung erhalten, um kostenfreie Kurse und eine quartiernahe „Eins-zu-Eins“-Beratung mit kultursensiblen, mehrsprachigen Dozent*innen anbieten zu können. Und weil beim Medienkompetenzerwerb älterer Menschen mit Migrationsgeschichte Familienangehörige eine große Rolle spielen, wäre es außerdem sinnvoll, das nahe soziale Umfeld bei der Konzeption von Kursangeboten miteinzubeziehen.

Was ist bei der Gestaltung altersgerechter Lernszenarien zu beachten?

Ganz entscheidend ist zunächst, dass ältere Menschen bereits eine Lernbiografie im Umgang mit Medien haben. Es ist für sie von Bedeutung, neue Lernanforderungen in Relation zu bisherigen Wissensbeständen und Orientierungen zu begreifen, die sie im Laufe ihres Lebens verinnerlicht haben. Das heißt, wir müssen hier sowohl jene Lern- und Aneignungsprozesse berücksichtigen, die auf dem Wege der Habitualisierung des Medienhandelns bereits vollzogen sind, als auch solche, die aus ihrer kognitiven Vergegenwärtigung und Veränderung resultieren. Viele Anwendungen sind bereits über leiblich-haptische Bedienroutinen so sehr verinnerlicht, dass sie unterschwellig auch den Umgang mit neuen Anforderungen prägen.

„Die Möglichkeit des Hinterfragens ist für das Erkunden neuer Anwendungen ganz elementar.“

Insofern ist die Möglichkeit des Hinterfragens für das Erkunden neuer Anwendungen ganz elementar. Denn damit können Ältere sinnlogisch an ihre Erfahrungen anknüpfen. Generell gilt: Medien- und Digitalkompetenzen werden nur dann zu vermitteln sein, wenn sie sich nicht als Erfordernisse begründen, die durch die Technik vorgegeben sind, sondern wenn das Erlernen für Ältere (erkennbar) mit einem Sinn verbunden ist. Diese Sinnhaftigkeit ist vor dem Hintergrund der je unterschiedlichen Voraussetzungen, Bedürfnisse und Interessen, aber auch aus der Perspektive sich ändernder Relevanzen im fortschreitenden Alter zu sehen, auch angesichts der sich begrenzenden Lebenszeit. Wichtig für Motivation und Selbstwirksamkeit sind auch kontinuierliche Rückkopplungsgelegenheiten. Hat sich das Gelernte in der Alltagspraxis widergespiegelt? Wo war dies nicht der Fall und aus welchen Gründen?

Medien- und Digitalkompetenzen werden nur dann zu vermitteln sein, wenn das Erlernen für Ältere (erkennbar) mit einem Sinn verbunden ist.

Ganz entscheidend ist, dass die Lerninhalte einen konkreten Alltagsbezug aufweisen und bestenfalls in der konkreten Anwendung erfahren werden. Nicht zuletzt ist es entscheidend, ältere Menschen nicht als Schüler*innen mit Nachholbedarf zu adressieren, sondern als wichtige und kompetente Mitgestalter*innen der Gesellschaft, deren Positionen und medienkritische Reflexionen wahrgenommen und wertgeschätzt werden. In der Praxis der Kompetenzförderung ist der Fokus noch zu sehr auf die Vermittlung von Wissen und Bedienfertigkeiten gerichtet. Vernachlässigt werden die vielfältigen Möglichkeiten, digitale Medien spielerisch-explorativ und gestaltend zu nutzen. Diese Perspektive hat in der Medienpädagogik in Ansätzen wie der „Aktiven Medienarbeit“ eine lange Tradition. Nehmen wir den Partizipationsbegriff ernst, so beinhaltet dieser aber auch die Notwendigkeit und das Recht der Teilgabe im Sinne eines Einbringens eigener Ideen und Kompetenzen. Sie beinhaltet Beteiligungsprozesse, bei denen Ältere ihre Bürger*innenrolle bei der Ausgestaltung politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse aktiv einnehmen. Und sie umfasst Ermöglichungsbedingungen eines Teilseins durch die wertschätzende Anerkennung älterer Bürger*innen als unverzichtbare Mitgestalter*innen einer demokratischen Gesellschaft. Gerade in Zeiten der Krise, des Wandels und der Transformation gilt es deutlich zu machen, dass Ältere den dynamischen Entwicklungen der Mediatisierung und Datafizierung nicht ausgeliefert sind, sondern dass sie diese entscheidend mitgestalten können und müssen.

Wo sehen Sie aktuell einen besonderen Handlungsbedarf?

Für eine nachhaltige Förderung bedarf es einer flächendeckenden Entwicklung von Ermöglichungsstrukturen in der Alltagswelt älterer Menschen. Bislang beruht die Förderpraxis noch weitestgehend auf Freiwilligeninitiativen, das heißt auf dem ehrenamtlichen Engagement vor allem älterer Lernbegleiter*innen mit technischer, seltener mit pädagogischer Qualifikation. Das sind Maßnahmen, die eher punktuell greifen und wenig Verstetigung erlauben. Nichtsdestotrotz bergen sie wichtige Erfahrungswerte, die bislang nur unzureichend geschöpft werden können. Ein Handlungsbedarf besteht also zunächst in der Notwendigkeit der Vernetzung und des systematischen Austauschs zwischen den vielfältigen Projekten und Initiativen – über eine zugängliche Dokumentation gelungener kommunaler Praxisbeispiele, über den organisierten Austausch zwischen Kommunen, aber auch durch den Ausbau von Servicestellen und Beratungsnetzwerken auf Bundes- und Länderebene. Und ganz grundlegend zählen zu den Ermöglichungsstrukturen selbstredend Möglichkeiten der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Schnittfeld von Medienpädagogik und Geragogik, aber auch der Sozialen Arbeit. Professionalisierung und Verstetigung der Förderpraxis sind entscheidende Voraussetzungen dafür, dass eine nachhaltige Medienbildung im höheren Lebensalter gelingen kann.

Vielen Dank für das Gespräch Frau Hartung-Griemberg!

Dr. Anja Hartung-Griemberg ist habilitierte Professorin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Gründungsmitglied der „Gesellschaft – Altern – Medien e.V.“ und seit Juni 2023 Mitglied im Fachbeirat „Digitalisierung und Bildung älterer Menschen“ des Bundesministeriums.


Dieser Text steht unter der CC BY 4.0-Lizenz. Der Name des Urhebers soll bei einer Weiterverwendung wie folgt genannt werden: Christine Schumann für Deutscher Bildungsserver.

1 Kommentare

  1. Man könnte meinen, die Digitalisierung ist nur was für die jüngere Generation, aber der Artikel wirft ein wichtiges Licht auf das Potenzial und die Notwendigkeit, digitale Kompetenzen bei älteren Menschen zu fördern. Es ist klar, dass wir weg müssen von der Idee, dass Technikaffinität eine Frage des Alters ist. Ältere Menschen bringen eine Lebenserfahrung mit, die, ergänzt durch digitale Fähigkeiten, eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft darstellt.
    Vielleicht sollte die Diskussion weniger darum kreisen, wie wir ältere Menschen in die digitale Welt „integrieren“ können, sondern vielmehr, wie wir die digitale Welt an die Bedürfnisse aller Altersgruppen anpassen können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert